„Ein eigener Staat ist keine Lösung“

Die jüngsten Bombenanschläge in der Türkei markieren eine neue Etappe des Kurdenkonflikts, meint Ömer Laciner. Doch weder der Staat noch kurdische Politiker haben eine Antwort auf die Nöte der jungen Kurden in den Großstädten

taz: Herr Laciner, mehrere Städte und Badeorte in der Türkei sind in den vergangenen Tagen von Bombenattentaten erschüttert worden. Wer sind die „Freiheitsfalken Kurdistans“, die sich für diese jüngste Serie von Anschlägen verantwortlich zeigen?

Ömer Laciner: Die „Freiheitsfalken“ entspringen der PKK. Es ist aber nicht klar, ob sie immer noch ein Teil der „Kurdischen Arbeiterpartei“ sind: Ihre Sprache ist viel nationalistischer und rassistischer. Trotzdem werden sie von der PKK fast gar nicht kritisiert, und PKK-nahe Zeitungen haben nach den Anschlägen ihre Erklärungen veröffentlicht.

Stimmt es, dass sich die „Freiheitsfalken“ aus der zornigen kurdischen Jugend der Großstädte rekrutieren? Im Gegensatz zur PKK, die sich im Grunde aus den kurdischen Städten und Dörfern der Region selbst speist?

Das sind junge Leute zwischen 16 und 18, vielleicht sogar noch jünger, deren Eltern in den 1980er- und 90er-Jahren aus den kurdischen Dörfern in die Großstädte der Türkei gezogen sind. Sie besitzen keine Schulbildung oder Berufsausbildung und somit null Chancen, jemals Fuß in der Gesellschaft zu fassen. Ihnen fehlt die Geduld und die Einsicht, auf politische Lösungen zu warten, von denen die Älteren reden. Reformen und weiche Übergänge sagen ihnen nichts. Die PKK will sich als feste politische Größe etablieren. Für diese kurdischen No-future-Kids mag sie sich nicht einsetzen, sie will sie aber auch nicht verstoßen.

Stehen wir vor einer neuen Etappe im Kurdenkonflikt?

Der 20-jährige Krieg hat das ganze Land zerrüttet. Es gibt eine große Masse von entwurzelten Menschen, die aus ihren Dörfern vertrieben wurden und in die Metropolen des Westens ausgewandert sind. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Armut in der Türkei drastisch zugenommen, nicht nur unter Kurden. Die Automatisierung und die Auslagerung der Produktion haben dazu geführt, dass immer weniger Arbeiter gebraucht werden. Nicht einmal die Berufstätigen und Selbstständigen blicken in eine gesicherte Zukunft.

Der türkische Bauer aus Malatya ist von dieser Entwicklung im gleichen Maße betroffen wie der kurdische Bauer in Van. Doch viele Kurden denken: Wir sind nur deshalb arm, weil wir Kurden sind.

Das ist in der Tat ein Teil des Problems. Und mittlerweile können sie sich sogar bestätigt fühlen: Noch vor fünf bis sechs Jahren wurden Kurden im Alltag kaum diskriminiert. Wenn ein Ladenbesitzer einen neuen Verkäufer suchte und unter drei Bewerbern ein Kurde war, nahm er ihn, wenn er ihm zusagte. Niemand schaute auf die Herkunft. Aber heute gibt es Arbeitgeber, die explizit keine Kurden einstellen, und in bestimmten Stadtteilen sind kurdische Mieter unerwünscht. Das ist noch nicht das Verhalten der Mehrheit. Aber 20 Jahre bewaffneter Kampf haben das gegenseitige Misstrauen verfestigt.

Manche fordern mehr Minderheitenrechte, andere einen unabhängigen Kurdenstaat. Wohin steuert die Kurdenfrage in der Türkei?

Der kurdische Nationalismus ist ein junges Phänomen. Die Ersten, die einen eigenen Staat forderten, waren die kurdischen Aristokraten, denn im Osmanischen Reich hatten sie lange Zeit Autonomie. Heute fordern vor allem die kurdischen Unterschichten einen eigenen Staat. Andererseits gibt es etliche Kurden, die voll in der türkischen Gesellschaft integriert sind. Und heute machen Kurden auch im Westen der Türkei bis zu 30 Prozent der Bevölkerung aus. Eine Trennung würde die Frage mit sich bringen: Wo soll die Grenze verlaufen? Außerdem wollen beileibe nicht alle Kurden in einem eigenen Staat leben.

Was wäre die Alternative?

Die demokratischen Reformen müssen weitergehen. Seit Beginn des bewaffneten Kampfes der PKK sagen wir, dass das Problem damit nicht zu lösen ist, sondern einer langfristigen und umfassenden Perspektive bedarf. Wer dagegen nur einen Anspruch auf ein bestimmtes Stück Erde proklamiert, wird früher oder später alleine über dieses Gebiet herrschen und andere unterdrücken wollen.

Haben die bisherigen Reformen also nichts genutzt?

Die wachsende Freiheit der kurdischen Kultur, Rundfunk- und Fernsehprogramme befriedigen schon bestimmte Kreise. Aber sie ändern nichts an den Lebensbedingungen der verarmten Massen. Das Anliegen der Jugendlichen ist es nicht, einen eigenen Staat namens Kurdistan zu gründen und dorthin zu ziehen. Das ist eine völlig unkontrollierte Bewegung. Die Jugendlichen klammern sich an ihre kurdische Identität, weil sie sonst nichts haben.

Die kurdische Sprache war in der Türkei lange Zeit verboten, heute nicht mehr. Was ist noch zu tun?

Das Verbot einer Sprache oder einer Kultur ist niemals akzeptabel. Auf der anderen Seite hat eine verbindliche Amtssprache durchaus praktische Vorteile, und in bestimmten Regionen könnten auch mehrere Amtssprachen gelten. Den Kurden muss das Gefühl vermittelt werden, dass ihre Sprache wertvoll ist, und ihr Gebrauch muss völlig freigestellt sein. Die Normalisierung im Alltag vermindert den Druck.

Was denken Sie: Wird es weitere Bombenanschläge geben?

Sie werden weitergehen. Denn sowohl der türkische Staat als auch die kurdischen Politiker hinken den realen Problemen hinterher. Alle gehen davon aus, dass es eine klar definierte Nation der Kurden gibt, die ihre Vertreter und Forderungen haben – von regionaler Autonomie über föderale Lösungen bis hin zu einem unabhängigen Staat. Die Debatte in der Türkei dreht sich um die Frage, wie viel man davon akzeptieren kann.

Aber die jungen Kurden, die in westlichen Metropolen aufwachsen, plagen ganz andere Probleme: Tagtäglich streifen sie den Luxus der Konsumgesellschaft, gleichzeitig spüren sie den Mangel viel schmerzlicher als ihre Eltern. Diese Kinder fühlen sich von keinem Politiker mehr vertreten. Deshalb glaube ich, dass die „Freiheitsfalken“ durchaus eine von der PKK unabhängige Organisation sein könnten.

In der ganzen türkischen Gesellschaft herrscht heute Misere. Auch die Kurdenpolitiker haben darauf keine Antwort zu bieten. Aber die Menschen am unteren Ende der Gesellschaft übersetzen ihre Probleme lieber in ethnische Begriffe. Auch unter Türken wächst die Zahl der Verlierer und Verunsicherten, die die Ursache all ihrer Probleme in der Kurdenfrage sehen und nationalistischer werden.

Kann es überhaupt eine Lösung der Kurdenfrage geben?

Auch wenn die Forderung nach kurdischer Unabhängigkeit erfüllt wäre – den Radikalen würde das nicht reichen, und sie würden die moderaten Kräfte des „Verrats“ bezichtigen, weil sie sich damit zufrieden gaben. Auch an der sozialen Misere würde sich nichts ändern, und in spätestens drei Jahren würde es dort zu einer sozialen Explosion kommen – nur diesmal gegen eine kurdische Regierung.

Sehen Sie: In Diyarbakir regiert ein kurdischer Bürgermeister, doch nichts hat sich geändert: Die kurdischen Kinder verkaufen weiterhin Taschentücher auf der Straße. Die Lösung kann niemals eine ethnische oder religiöse sein. Aber sich in der Gemeinschaft zu kuscheln, ist heute zum wärmenden Schutzmantel geworden.

INTERVIEW: DILEK ZAPTCIOGLU