Halbstarke ohne Lobby

Das größte NRW Kinder- und Jugendtheaterfestival tourt zum 13. Mal durch acht Städte entlang der Rheinschiene. Ein kleiner Etikettenschwindel: Nur die kleinsten Theaterbesucher werden umworben

VON PETER ORTMANN

Wie erreichen Politiker 5.000 zukünftige Wähler? Sie finanzieren Theater. Sieben Wochen lang tourt das größte NRW Kinder- und Jugendtheaterfestival „Spielarten“durch acht Städte in Nordrhein-Westfalen und zeigt dabei 54 Vorstellungen die Rheinschiene entlang. Das Festival biete Erlebnisräume auf höchstem künstlerischen Niveau und höre nicht beim Schlussapplaus auf, schreibt Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, ministerialer Kulturchef in Nordrhein-Westfalen und natürlich auch Schirmherr. Elementar zum Festival gehörten auch die Fortbildungen für Erzieher. Die „Spielarten“ wollten kreative Prozesse anregen und den Dialog mit Lehrern und Erziehern fördern.

Die kleine Clara hat einen Vogel. Die Eltern sind nicht begeistert. Ergebnis: Beide wandern in den Wald aus. Coole Idee. „Je kleiner, desto umworbener“ könnte ein Motto der beteiligten zehn Theater sein. Die Zielgruppe für ästhetische Bildung wird immer jünger. Der Theatermarkt stellt sich darauf ein, liefert ständig neue Stücke, die eine neue märchenhafte Welt jenseits der Bits und Bytes beschreiben. Da findet sich die Froschkönigin schon einmal am Loch Ness in Schottland und Franz Marcs blaues Pferd stammt aus einer Pferdesammlung. Ein Theaterstück gleich für die Allerkleinsten zeigt das Hammer Helios Theater. Bei „Erde, Stock und Stein“ können Eltern schon mit zwei Jahre alten Pampers-Sprösslingen in die Theaterlogen. Ein Puppenspieler und ein Musiker erforschen dann die Spielmöglichkeiten, die in einem riesigen Klumpen Erde stecken. Hierbei wird sie zum Fundort von Geschichten und Tönen, wird sie erfahrbar als Nährboden, der verbirgt und hervorbringt. Die Handlung ist das Entdecken selbst, den Kleinen im Zuschauerraum als tägliches Erleben wohl bekannt. Und sie haben einen Heidenspass dabei. Nur Wilhelm Busch schaut wahrscheinlich traurig aus den Wolken. Richtige Märchen finden sich im bunten Reality-Rucksack der deutschen Kindertheater kaum noch, nur Ikarus und die Nibelungen haben es beim Festival hinein geschafft.

Aus Köln kommt mit „Die Schaukel“ das einzige Stück für Jugendliche. Der Dauerbrenner von Edna Mazya ist ein Beispiel dafür, wie ein Autor einen authentischen Fall auf die Bühne bringen kann: Auf einem Spielplatz. Die 15-jährige Dvori schaukelt und wartet. Als der ältere Assaf und seine drei Freunde auftauchen, scheint endlich was zu passieren. Ihr Bedürfnis nach Freundschaft und Akzeptanz verbirgt sie hinter Coolness und Provokation. Mit allen Mitteln versucht Dvori die Jungs und vor allem Assaf zu beeindrucken. Dieser treibt sie immer weiter. Es wird ein Spiel, dessen Folgen später vor Gericht verhandelt und zu einer exemplarischen Frage nach Verantwortung, Schuld und Täterschaft werden. Und wie brisant diese authentischen Themen sind, hat in NRW im Mai ein Oberlandesgericht bewiesen.

Das an einer Hagener Jugendbühne von Werner Hahn inszenierte Schauspiel „Ehrensache“ des Berliner Dramatikers Lutz Hübner wurde verboten. Hier hatte er die Vorgänge um den so genannten „Hagener Mädchenmord“ thematisiert, wo eine junge Frau aus Arroganz und verletzter Eitelkeit sterben musste. Hübner hatte Namen und Details verändert. Doch das Hammer Gericht stellte postmortale Persönlichkeitsrechte vor die Kunstfreiheit.

Ob solche Probleme einer der Gründe sind, weshalb beim immerhin 13. Kinder- und Jugendtheaterfestival die besonders gefährdete Zielgruppe der Halbwüchsigen kaum mit Inszenierungen bedacht wird, ist nicht sicher. Oder haben Eltern, Lehrer und Politiker diese schwierige Generation bereits aufgegeben?

Spielarten 0610. September bis 30. OktoberInfos: 02162-101466