Kunst to go

AKTION Eine Künstlerin aus Baden-Württemberg hängt Bilder in der Stadt auf, die man einfach mitnehmen darf. Einzige Bedingung: Eine Nachricht, was mit dem Kunstwerk passiert. Manche melden sich tatsächlich

Nach einer Stunde Warten gibt Annemarie Heitzmann auf: Ihr Bild hängt noch

Annemarie Heitzmann beobachtet aus ihrem VW Golf die gegenüberliegende Straßenseite. Durch das Autofenster sieht sie Touristen in den Berliner Dom in Mitte strömen. Vor einer halben Stunde hat die Künstlerin ihren Köder ausgelegt: Ein Bild, 70 mal 50 Zentimeter, hängt mit Klebeband befestigt an der Mauer der Kirche. Der Siebdruck zeigt die Dresdner Frauenkirche, umrahmt von dem Schriftzug: „versöhnung leben, brücken bauen.“ Heitzmann wartet auf einen Dombesucher, der vorbeikommt und das Kunstwerk einpackt. „Wenn Ihnen das Bild gefällt, können Sie es einfach mitnehmen“ – diesen Satz hat sie daneben geschrieben.

Die Künstlerin aus Offenburg ist rund 750 Kilometer nach Berlin gefahren, um mit ihren Bildern die Stadt zu erforschen. „Was löst meine Kunst für Gefühle aus?“, fragt sie sich. Die Interpretation ihrer Bilder soll demjenigen vorbehalten bleiben, der die Kunstwerke mitnimmt. Mit der Aktion will sie darüber hinaus erfahren, ob Menschen in einer Großstadt anders auf ihre Bilder reagieren als Bewohner einer kleinen Gemeinde. „Ich habe die Befürchtung, dass die Leute in einer Stadt wie Berlin abgestumpfter sind“, sagt die 64-Jährige. Neben dem Bild am Dom hat sie ihre Adresse hinterlassen, denn sie will wissen, was der neue Besitzer damit macht: ob er es aufhängt, verschenkt oder vielleicht daran weitermalt. Sie macht eine solche Aktion öfter – und bekommt auch Antworten: Ein Mann habe das Bild bei sich über dem Bett aufgehängt, ein anderes wurde spontan zu einem Hochzeitsgeschenk.

Weitere 30 Minuten vergehen am Dom und das Kunstwerk an der Wand neben dem Kircheneingang hängt noch. Ein Rentnerpaar verharrt vor dem Bild und beginnt Heitzmanns Text zu lesen. Die Künstlerin beobachtet die beiden aus sicherer Entfernung. „Jetzt bin ich mal gespannt“, sagt Heitzmann in breiten badischen Dialekt. Zehn Sekunden bleibt das Paar vor dem Bild stehen, bevor es die Treppen zur Kirche emporläuft – ohne das Bild von der Wand zu nehmen. Nach einer Stunde gibt Annemarie Heitzmann auf: Sie bricht auf, um noch drei weitere Bilder in der Berliner Innenstadt zu verteilen. Ihr Bild am Dom hängt immer noch.

Ihre Biografie verbindet die Künstlerin mit dem Motiv der Frauenkirche: 1946 ist sie in Dresden geboren, 22 Jahre später floh sie in den Westen. „Es war eine schreckliche Zeit“, sagt Heitzmann über ihre Jugend. Die Leidenschaft für die Kunst rührt jedoch aus diesem Lebensabschnitt: Heitzmann begann in Dresden Bildende Kunst zu studieren. Ihr Vater, ebenfalls Künstler, war als Regimekritiker aufgefallen – die genauen Umstände der Flucht will sie auch heute noch nicht preisgeben.

Nach der Flucht zog Heitzmann drei Töchter auf. Erst danach fand sie wieder Zeit für die Kunst. In Basel und Brügge setzte sie ihr Studium fort und konzentrierte sich dabei auf Kalligrafie – die Kunst der Schrift. „Deswegen kombiniere ich gerne Bilder und Schrift“, sagt Heitzmann, so wie auf dem Druck mit der Frauenkirche. Die Künstlerin verdient ihren Lebensunterhalt mit den Bildern, die sie zum Beispiel an Unternehmen verkauft, sowie mit Schülern, die sie in Kalligrafie unterrichtet.

Drei Tage nach ihrer Tour durch Berlin bekommt Heitzmann, die wieder nach Offenburg zurückgekehrt ist, einen Anruf. Eine Frau hatte das Bild, das sie am Ausgang des U-Bahnhofs Tempelhof postiert hatte, mitgenommen. Darauf sind zwei Streichhölzer zu sehen: eines, das brennt, und eines, das ausgepustet wurde. Heitzmann berichtet, die Finderin sei fassungslos gewesen, denn sonst sehe sie immer nur Zettel an der Wand, dass etwa ein Hund oder eine Katze gesucht werden. „Die Frau erzählte mir, dass sie vor dem Fund eineinhalb Stunden geweint hat, weil sie am Arbeitsplatz massiv gemobbt wird“, berichtet die badische Künstlerin. Die 42-jährige Finderin interpretiere das Bild der zwei Streichhölzer als Zeichen dafür, dass kein Ärger sie „brechen“ könne – denn auf dem Werk steht das Streichholz ohne Feuer senkrecht.

Von den Menschen, die die anderen drei Bilder mitgenommen haben, sind bisher keine Rückmeldungen gekommen. Wenn die Künstlerin wieder auf Reisen geht, wird sie in einer anderen Stadt Bilder aufhängen, kündigt sie an. „Wo ich halt gerade hinkomme“ – um erneut zu erfahren, wie die Leute ihre Kunst aufnehmen. CASPAR SCHLENK