Mit dem Kopf durch Deutschland

REISE Wie lebt es sich in diesem Land? Auf jeden Fall grenzenlos. Ein Rundumblick nach zwanzig Jahren

Die Idee: Der 7. Mai 2010 war ein ganz gewöhnlicher Freitag. Und doch wird er in Erinnerung bleiben. Denn an diesem Tag reisten 432 Fotografinnen und Fotografen durch ganz Deutschland, um festzuhalten, was in diesem Land geschieht. In Schulen waren sie und in Wohnzimmern, auf Fußballplätzen und Flughäfen, im Wald und im Parlament.

Die Bilder: Auf hunderten Fotos sehen wir dieses Land durch die Kameralinse. Schnell wird klar: Hier steht der Mensch im Mittelpunkt, gleichgültig ob er bei Großereignissen, zu Hause oder im Beruf fotografiert wurde. Von Sylt bis Garmisch ist so eine einzigartige visuelle Bestandsaufnahme entstanden.

Das Buch: „Ein Tag Deutschland“ ist gerade im DPunkt Verlag erschienen. Der Band hat 640 Seiten und kostet 42,90 Euro.

VON ANNETT GRÖSCHNER

Ochsenfurt in Unterfranken. Deutschlandfahne im Vorgarten, Benz vor der Tür Foto: Daniel Biscan

Kaiserslautern. Im Neumühlepark steht ein Dinosauriermodell im Wasser, Arbeiter suchen nach der Ursache. Auf dem Gelände beschäftigt die Lebenshilfe 33 Schwerbehinderte Foto: Isabelle Girard de Soucanton

Ich bin Berlinerin. Ich bin viel unterwegs. Ich bin neugierig. Ich probiere gerne fremde Orte aus. Ich frage mich, ob ich die Frau da auf Bahnsteig 2 in Mannheim sein könnte, die jeden Morgen im Businesskostüm nach Frankfurt pendelt, ob ich die Schönheit der Landschaft zwischen Gotha und Göttingen noch sehen würde, müsste ich täglich die Strecke fahren, ob es meine Entscheidungen maßgeblich beeinflusste, würde ich meinen Hauptwohnsitz in Hildesheim nehmen. Wie es sich mit dem schmalen Texthonorar in München leben ließe oder ob ein schiefes Häuschen am Fuße des Altenburger Schlosses mich glücklicher machen würde als ein Neubauernhaus zehn Kilometer vom Meer. Ob ich vielleicht mit dem Tangotanzen anfinge oder Sprachen lernte, würde ich in Kassel oder Köln meinen Lebensmittelpunkt haben. Und mich in Freiburg die viele Sonne nicht depressiv machen würde. Oder wie es wäre, den teuren Arbeitsraum einzusparen und die Schreibklause in Intercityexpresszüge zu verlegen.

Heitersheim. Im Orden der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul salbt Pfarrer Erwin Seifried eine erkrankte Schwester Foto: Andree Kaiser

Ich probiere es aus. Ich will wissen, wie weit man herumkommt an einem Tag mit der Bahn. Ich nehme vom Berliner Hauptbahnhof den ersten ICE nach Leipzig, wo die Richtung wechselt und ein Prellbock zu vermieten ist. Manche Orte sehen aus wie nachlässig in die Landschaft gehaucht, andere können ihren Namen nicht verraten, weil der Zug durch die Bahnhöfe rast. Der erste Tunnel kommt viertel zwölf. Dann Bamberg, Erlangen, Nürnberg. Dörfer hinter Schallschutzwänden. Leben ist mehr, sagt die Reklame. Das könnte Ingolstadt sein und es ist Ingolstadt. Dann München.

Möllenhagen in Mecklenburg-Vorpommern. Die Dorfbewohner haben die leer stehende Dorfkneipe zum Treffpunkt gemacht, die Wand hinten ist noch im Originalzustand Foto: Wolfgang Borrs

Ich will Geld, wie alle Frauen, sagt sie zu einem Mitreisenden. – Und was sonst noch für Laster? – Alle, außer Schuhekaufen.

Berlin. Die 7. Kompanie des Wachbataillons bricht zu ihrem ersten Eingewöhnungsmarsch über fünf Kilometer in sechzig Minuten auf. Hier werden in der Julius-Leber-Kaserne die Schnürsenkel inspiziert Foto: David Baltzer/Zenit

Würzburg. Männer mit Goldknöpfen am marineblauen Jackett. Kein Zug ohne Verspätung. Frankfurt Flughafen. Direkter Zugang zu den Terminals. Der Zug nach Kiel kommt als Ersatzzug. Grüner Plüsch aus den Siebzigern. Aufregung bei den Leistungsträgern. Ich werde mich beim Bahnchef persönlich beschweren. Das Ruhrgebiet muss links liegen bleiben.

Spalt in Mittelfranken. Nach getaner Arbeit tanzt Bäckermeister Josef Salbaum mit seiner Frau Irina Boogie-Woogie Foto: Angelika Salomon

Im Bramwald bei Oedelsheim. Ein frisch geschossener Rehbock liegt in der Transportwanne von Gunter Mantels (rechts) Dienstwagen. Im Hintergrund steht der Jagdgast, der den Bock geschossen hat Foto: Knut Gielen

Bist du verheiratet? – Patchwork. Und du?

Im Bramwald bei Oedelsheim. Förster Gunter Mantel telefoniert mit seinem Forstmeister, der in einem anderen Teil des Reviers Buchen schlägt Foto: Knut Gielen

Köln. Manfred Weber verkauft seit 41 Jahren Tickets für die Rheinschifffahrt AG. Sein Fahrkartenhäuschen ist eines der letzten dieser Art, die meisten Ausflügler kaufen ihre Tickets am Automaten Foto: Thilo Schmülgen

Göttingen. Hannover. Tastaturen klicken, Klingeltöne, die Hitparade rauf und runter. Zehn vor neun ist es dunkel in Harburg. Der letzte Zug nach Berlin geht weltstädtische 21.21 Uhr. So schließt sich der Kreis. 1.885 Kilometer an einem Tag.

Berlin. Schüler der Klasse 5e üben schreiben. An der Erika-Mann-Grundschule haben 85 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund, zwei Drittel von ihnen schaffen den Sprung aufs Gymnasium oder die Realschule Foto: Jörg Müller/Focus

Aber eigentlich ist auch die Ringbahn genug. Da kann man all den Leuten begegnen, die aus Frust, Notwehr, Verliebtheit oder tausend anderen Gründen aus Mannheim, München, Magdeburg, Leipzig, Freiburg, Hildesheim, Gotha, Altenburg, Köln, Kassel oder anderen Dörfern nach Berlin gezogen sind und von jedem Ort etwas mitgebracht haben, ob es den Mitreisenden passt oder nicht.