Mit dem Kopf durch Deutschland
REISE Wie lebt es sich in diesem Land? Auf jeden Fall grenzenlos. Ein Rundumblick nach zwanzig Jahren
■ Die Idee: Der 7. Mai 2010 war ein ganz gewöhnlicher Freitag. Und doch wird er in Erinnerung bleiben. Denn an diesem Tag reisten 432 Fotografinnen und Fotografen durch ganz Deutschland, um festzuhalten, was in diesem Land geschieht. In Schulen waren sie und in Wohnzimmern, auf Fußballplätzen und Flughäfen, im Wald und im Parlament.
■ Die Bilder: Auf hunderten Fotos sehen wir dieses Land durch die Kameralinse. Schnell wird klar: Hier steht der Mensch im Mittelpunkt, gleichgültig ob er bei Großereignissen, zu Hause oder im Beruf fotografiert wurde. Von Sylt bis Garmisch ist so eine einzigartige visuelle Bestandsaufnahme entstanden.
■ Das Buch: „Ein Tag Deutschland“ ist gerade im DPunkt Verlag erschienen. Der Band hat 640 Seiten und kostet 42,90 Euro.
VON ANNETT GRÖSCHNER
Ich bin Berlinerin. Ich bin viel unterwegs. Ich bin neugierig. Ich probiere gerne fremde Orte aus. Ich frage mich, ob ich die Frau da auf Bahnsteig 2 in Mannheim sein könnte, die jeden Morgen im Businesskostüm nach Frankfurt pendelt, ob ich die Schönheit der Landschaft zwischen Gotha und Göttingen noch sehen würde, müsste ich täglich die Strecke fahren, ob es meine Entscheidungen maßgeblich beeinflusste, würde ich meinen Hauptwohnsitz in Hildesheim nehmen. Wie es sich mit dem schmalen Texthonorar in München leben ließe oder ob ein schiefes Häuschen am Fuße des Altenburger Schlosses mich glücklicher machen würde als ein Neubauernhaus zehn Kilometer vom Meer. Ob ich vielleicht mit dem Tangotanzen anfinge oder Sprachen lernte, würde ich in Kassel oder Köln meinen Lebensmittelpunkt haben. Und mich in Freiburg die viele Sonne nicht depressiv machen würde. Oder wie es wäre, den teuren Arbeitsraum einzusparen und die Schreibklause in Intercityexpresszüge zu verlegen.
Ich probiere es aus. Ich will wissen, wie weit man herumkommt an einem Tag mit der Bahn. Ich nehme vom Berliner Hauptbahnhof den ersten ICE nach Leipzig, wo die Richtung wechselt und ein Prellbock zu vermieten ist. Manche Orte sehen aus wie nachlässig in die Landschaft gehaucht, andere können ihren Namen nicht verraten, weil der Zug durch die Bahnhöfe rast. Der erste Tunnel kommt viertel zwölf. Dann Bamberg, Erlangen, Nürnberg. Dörfer hinter Schallschutzwänden. Leben ist mehr, sagt die Reklame. Das könnte Ingolstadt sein und es ist Ingolstadt. Dann München.
Ich will Geld, wie alle Frauen, sagt sie zu einem Mitreisenden. – Und was sonst noch für Laster? – Alle, außer Schuhekaufen.
Würzburg. Männer mit Goldknöpfen am marineblauen Jackett. Kein Zug ohne Verspätung. Frankfurt Flughafen. Direkter Zugang zu den Terminals. Der Zug nach Kiel kommt als Ersatzzug. Grüner Plüsch aus den Siebzigern. Aufregung bei den Leistungsträgern. Ich werde mich beim Bahnchef persönlich beschweren. Das Ruhrgebiet muss links liegen bleiben.
Bist du verheiratet? – Patchwork. Und du?
Göttingen. Hannover. Tastaturen klicken, Klingeltöne, die Hitparade rauf und runter. Zehn vor neun ist es dunkel in Harburg. Der letzte Zug nach Berlin geht weltstädtische 21.21 Uhr. So schließt sich der Kreis. 1.885 Kilometer an einem Tag.
Aber eigentlich ist auch die Ringbahn genug. Da kann man all den Leuten begegnen, die aus Frust, Notwehr, Verliebtheit oder tausend anderen Gründen aus Mannheim, München, Magdeburg, Leipzig, Freiburg, Hildesheim, Gotha, Altenburg, Köln, Kassel oder anderen Dörfern nach Berlin gezogen sind und von jedem Ort etwas mitgebracht haben, ob es den Mitreisenden passt oder nicht.