Ein schwüler Sommer in Danzig

Urlaub an der Ostsee in einem ehemaligen Fischerdorf, das einmal Gyddanyzc hieß. „Aus Gydannyzc machte man Danczik, aus Danczik wurde Dantzig, das sich später Danzig schrieb, und heute heißt Danzig Gdańsk“ („Die Blechtrommel“)

von LUTZ DEBUS

„Nach Polen? Ist das Auto auch gut versichert?“ Und auch: „Nach Polen? Zu den Haider-Zwillingen?“ Ein Erholungsurlaub jenseits der Oder erscheint fragwürdig. Und tatsächlich, einige Kilometer hinter der Grenze bei Stettin mündet die Autobahn in eine Sandpiste. Fragmente eines Kopfsteinpflasters erhöhen den Rollwiderstand. Dann aber, nach einer halben Stunde Geruckel, folgt doch noch eine durchaus mitteleuropäisch anmutende Landstraße. Nur noch 370 Kilometer bis Danzig. Das Ferienhaus, aus dem Internet geangelt, direkt an einem See gelegen, verbreitet Tiroler Charme. Ein Ehepaar vermietet das Anwesen. Er, deutscher Rentner, sie, blondierte Polin, haben für die Feriengäste ihr Eigenheim geräumt und sich in der Garage einquartiert. Er spricht kein Polnisch, ist auch sonst wortkarg. Sie spricht kaum Deutsch, aber Polnisch sehr viel. Seit 16 Jahren seien sie verheiratet, verkündet die Gastgeberin stolz.

Ein Steg, ein Ruderboot, Seerosen und Schilf am Ufer, Libellen sirrend über den sanften, grünen Wellen. Man könnte Wochen bleiben, gäbe es nicht noch mehr zu entdecken. Die Ostsee lockt. In nur zehn Minuten ist man in Debki. Aufblasbare Delphine und Bernsteinketten werden in den Vorgärten der etwa zwei Dutzend Häuser angeboten. Auf einem Motorrad mit Beiwagen und einem Maschinengewehr daran, olivgrün und garantiert über 60 Jahre alt, kann man sich fotografieren lassen. Statt auf dem Wehrmachtsrad geht es zu Fuß fünf Minuten durch den Kiefernwald, um zum Baltischen Meer zu gelangen. Feinster, weißer Sand, das Wasser jedoch für die Jahreszeit zu kühl. Die polnischen Sonnenbadenden leuchten krebsrot, ähnlich ihren englischen Artgenossen. Zu Abend in einem Landgasthaus werden „Kaschubische Täubchen“ bestellt. Was mag das sein? Falscher Hase ist ja bekanntlich auch kein Hase. Serviert bekommt man vorzügliche Kohlrouladen.

Am nächsten Tag lockt die Großstadt, die Dreistadt. So heißt das Gebilde aus Danzig, Gdingen und Zoppot. Die altehrwürdige, im Jahre 1826 aus Holz erbaute Mole von Zoppot ragt über 500 Meter ins Meer. Die Architektur des Bauwerks verlangt nach Damen mit Spitzenhäubchen, Sonnenschirmchen und langen, hellen Seidenkleidern. Stattdessen aber bittet eine lebensgroße Plastikpuppe in ein Zelt, das auf den verwitterten Planken an der Spitze der Mole aufgebaut ist. Shrek, die grün-monströse Trickfilmfigur, ist Türsteher eines kleinen Wachsfigurenkabinetts. Doch die Touristen, meist Polen, sind nicht interessiert an Filmhelden aus Polyester. Auch der weißhaarige Herr, der Fotodrucke vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf der nahegelegenen Westerplatte anbietet, bleibt unbeachtet.

An diesem schwülheißen Sommertag, an dem die Ostsee faul und spiegelglatt daliegt, strömen die Flanierenden zu den Eis- und Getränkeständen. Am Rand der Mole sitzen drei junge Schwedinnen mit gruftig schwarzem Outlook und trinken das für ihre Verhältnisse spottbillige Dosenbier in Mengen. Junge Polen versuchen, den Damen mit halsbrecherisch wirkenden Kopfsprüngen in die Fluten ein bewunderndes Lächeln abzugewinnen, ernten aber nur spöttisches Schmunzeln.

Dann Danzig. Verharrt man Sekunden auf dem Langen Markt und schaut sich um wie ein Tourist, hat man sofort einen zahnlosen Philosophen bei sich. Säuerlich und nach Alkohol riechend, erzählt er gern die Geschichte der Stadt und die seines Lebens. Erstere ist aber auch in Reiseführern nachzulesen. Zigeunergegeige ertönt von der einen, Flamenco auf Knopfakkordeon gespielt von der anderen Seite. Straßenmusik allüberall. Dann tauchen deutsche Touristen auf. Mit ihren Camcordern zielen die etwa 65-Jährigen auf die filigranen Fensterfronten und Giebel. Zu jung sind sie, um früher mit anderem Gerät an gleicher Stelle gezielt zu haben. Aus Wortfetzen ist zu erahnen: Als kleine Kinder waren sie schon einmal hier.

Der Trupp rüstiger Rentner besteigt an der träge dahinfließenden Mottlau ein Piratenschiff. Die Aufbauten aus Holz, das Schiff selbst ein Lastkahn mit tuckerndem Diesel. Am Heck ein großes Schild mit dem Namen „Westerplatte“. Von den Kaimauern führt eine Gasse wieder in Richtung Häusermeer. Bernsteinkettengeschäft reiht sich an Bernsteinkettengeschäft und schon brütet da, wie Günter Grass es schreibt, die dicke, große Ziegelente. Die größte Backsteingotikkirche der Welt, die Marienkirche, ragt in den Himmel voller Tauben. Drinnen im Kirchenraum steht die Astronomische Uhr. Der Baumeister wurde nach Fertigstellung im 15. Jahrhundert, eine zu jener Zeit übliche Prozedur, geblendet, um das Urheberrecht zu wahren. Aus Rache, so weiß der Reiseführer zu berichten, habe sich der arme Uhrmacher so geschickt an seinem Werk das Leben genommen, dass er dabei die Mechanik für Jahrhunderte zerstörte.

Auf der anderen Seite des Kirchenschiffs ist die dargestellte Geschichte jünger. Eine Fotoausstellung. Papst Johannes Paul II. in Danzig. Solidarność-Transparente, eine Menschenmenge bis zum Horizont, der junge Lech Wałesa am Megafon, Polizeiketten, Tränengaswolken in der Marienkirche. Ein Ausflug in die polnischen Achtziger.

Draußen auf der Straße erwartet einen wieder die Gegenwart. Am mächtigen Portal sitzt ein Mann mit nackten Füßen auf der Steintreppe, hält den Vorbeiströmenden bettelnd einen leeren Joghurtbecher hin. Der Rückweg zum Ferienhaus führt vorbei an Filialen deutscher Billigdiscounter und Baumarktketten, Plattenbausiedlungen, säulenbestandenen Palästen von reichen Onkels aus Amerika und Häuschen mit Wellblechdächern und bröckelndem Putz. Es wird wieder ländlicher. Nach einer Stunde ist man endlich wieder am See.

Nach zwei Wochen ist man trotz Neuwagen zu Hause angekommen. Obwohl taz-Autor, ist man unbeschadet aus dem Land herausgekommen. Ein schöner Erholungsurlaub mit ein paar Geschichtssplittern darin. Empfehlenswert.