Cooles Wohnen am Ground Zero

Noch ist da, wo das World Trade Center stand, vor allem eine Baugrube. Doch immer mehr New Yorker finden es hip, in den Finanzdistrikt umzuziehen

AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL

Andy Czeghedi hat nicht viel zu tun in letzter Zeit. Sein Fotogeschäft „World Trade Camera“ direkt gegenüber von Ground Zero ist meist leer. Ab und zu macht er ein Passbild oder repariert einem Touristen die Kamera. In der Regel langweilt sich jedoch der kleine Mann mit der Knollennase, der seit seiner Einwanderung aus Ungarn 1956 hier im Finanzdistrikt am Südzipfel von Manhattan arbeitet. Deshalb hat Andy viel Zeit zu meckern. Und das tut er gerne und ausgiebig.

Nach dem 11. September habe ihn die Stadtregierung mit allerlei finanziellen Anreizen von seinem alten Standort an der Wall Street hier an den Ground Zero gelockt, erzählt Andy. Dann hörten die Stadtteil-Wiederaufbau-Zahlungen plötzlich auf. Revitalisiert ist jedoch gar nichts – Geschäftsleute gibt es nicht, und die Katastrophentouristen werden auch immer weniger: „Ich meine, wie lange kann man denn in ein gottverdammtes Loch starren? Fünf Jahre sind jetzt vergangen!“

Andy hat die Nase voll. Er hat schon ein großes Schild in sein Fenster gehängt, auf dem er sein Geschäft zur Untervermietung anbietet. Das Viertel rund um das World-Trade-Center-Gelände ist wegen des endlosen politischen Gezerres zwischen den verschiedenen Interessengruppen gelähmt. Niemand weiß, was hier einmal werden wird, und vor allem nicht, wie lange das noch dauert. Und deshalb verlieren Leute wie Andy langsam die Geduld und den Mut.

Immerhin ist es seit ein paar Monaten in dem verwüsteten Karree lebendiger geworden. Wo bis vor wenigen Wochen noch durch den vier Meter hohen Stahlgitterzaun rund um das Gelände nichts anderes zu sehen war als ein paar Baucontainer und säuberlich in den Sand gestapelte Latten und Stahlträger, fahren jetzt Bagger auf und ab, man hört, wie sich Bauarbeiter Anweisungen zurufen, und es wachsen langsam Betonwände aus der zehn Meter tiefen Grube.

Erst in diesem Frühjahr hatte Pächter Larry Silverstein endlich dem Druck von Bürgermeister Michael Bloomberg, Gouverneur George Pataki sowie den New Yorker Medien nachgegeben, endlich etwas zu tun. Silverstein hatte offensichtlich nicht genug Geld gehabt, seine grandiosen Baupläne zu verwirklichen, und musste schließlich die Hoheit über das Gelände reuig an die öffentliche Hand abtreten, damit hier überhaupt einmal etwas passiert.

An den Absperrgittern des im vollgestopften Manhattan so auffallend leeren Quadranten stehen jeweils ein paar Dutzend Touristen. Sie wirken verloren, außer einer Baustelle, die sich von keiner anderen Baustelle der Welt unterscheidet, gibt es nichts zu sehen. An der Ostseite, wo schon seit anderthalb Jahren der Pendlerbahnhof nach New Jersey wieder in Betrieb ist, sind zum Jahrestag großformatige Fotos vom 11. September und eine Chronologie der Ereignisse jenes Tages zu bestaunen.

Eine Gruppe junger Kanadier steht ergriffen vor der Chronologie und vergisst bei der Lektüre offenkundig ihre lärmende, hetzende New Yorker Umgebung. „Es kommt alles wieder, wie das damals war“, sagt Tim Hutchinson, ein sportlicher junger Typ, der zum ersten Mal in New York ist, mit gedämpfter Stimme. Man flüstert hier pietätvoll, auch wenn nur Meter entfernt die Taxis hupen und aus der Grube das Wummern von Presslufthämmern dröhnt.

Der augenblickliche Zustand des Ortes macht ihn eigentlich gänzlich ungeeignet als Gedenk- und Pilgerstätte. Die Versuche, dennoch eine andächtige Atmosphäre zu schaffen, bis in ein paar Jahren endlich die umstrittene Gedenkstätte fertig ist, wirken unbeholfen. Das beschädigte Gebäude der Deutschen Bank an der Südseite des Geländes, aus dem immer noch mühsam Leichenteile geborgen werden, ist mit einem verwitterten schwarzen Netz verhängt. Am Zaun der Grube wird auf Blechschildern darum gebeten, von fliegenden Souvenirhändlern nichts zu kaufen. Ihre Stände mit Katastrophenkitsch wurden schon vor zwei Jahren vertrieben. Trotzdem streunen sie noch immer um die Touristen herum und zücken in vermeintlich unbeobachteten Augenblicken Postkarten mit heroischen Feuerwehrleuten aus ihren Mänteln.

Für diejenigen, die damals tatsächlich hier waren, hat das ganze Pietätsgehabe unterdessen etwas Verlogenes. Wie es hier am 11. September 2001 wirklich war, wissen nur sie, und keine Gedenkstätte wird jemals vermögen, das jemandem zu vermitteln, der es nicht erlebt hat. „Die Fotos, vor denen da am Zaun jetzt die Leute stehen“, sagt Andy der Fotohändler etwa, „haben nichts Beängstigendes. Ich habe am 11. September da drüben an der Ecke Fulton Street und Wall Street gestanden. Das war beängstigend.“ Mehr will Andy dazu nicht sagen, jedes weitere Wort wäre zu viel.

Die meisten, die damals hier waren, wollen wie Andy eigentlich lieber nicht mehr über diesen Tag reden. Jimmy, der Barkeeper vom Irish Pub O’Hara’s, nur hundert Meter von Ground Zero entfernt, etwa winkt gleich ab. „Ich habe keine Zeit zu reden, ich habe zu viel zu tun“, sagt er, auf den 11. September 2001 angesprochen. Dabei sitzen nur drei Gäste an der Theke des düsteren Schankraums, und die sind alle mit Getränken versorgt. Schon jetzt, drei Wochen vor dem 11. September, hat Jimmy vom Erinnerungsrummel zum Jahrestag die Nase voll: „Es ist jeden Tag ein Kamerateam hier, ich kann nicht mehr“, entschuldigt er sich ein wenig später für sein Schweigen.

Man kann ihn verstehen. Die täglichen pathetischen Fernsehdokumentationen, der PR-Lärm um die sentimentale Hollywood-Verfilmung der Katastrophe, „World Trade Center“, das penetrante lärmende Hickhack zwischen den Familien der Angehörigen, den Politikern, den Journalisten, den Designern und Architekten darüber, was nun die angemessene Form des Andenkens ist, nervt schon, wenn man den Tag nicht in New York oder gar am Ground Zero erlebt hat. All das kann nur eine Trivialisierung der Erfahrung sein. Wer da war, schweigt lieber und weigert sich, sein Trauma zur medialen oder politischen Ausschlachtung feilzubieten.

Als das Gespräch an der Bar auf die Zukunft des Viertels kommt, taut Jimmy doch noch auf. Wie es weitergeht, beschäftigt die Leute, die hier wohnen. Viel mehr als das, was früher war. Jedenfalls reden sie lieber darüber. „Die wollen aus dem Viertel noch ein schickes Yuppie- und Boutiquenviertel machen“, klagt Jimmy, der seit 20 Jahren bei O’Haras am Tresen Guiness ausschenkt. „Als gäbe es davon nicht schon genügend in New York.“

Die Greenwich Street, in der O‘Hara’s liegt, ist ein Straßenzug, wie es ihn nur noch selten gibt in Manhattan. Er erinnert an die 70er-Jahre, bevor alles aufgeräumt und renoviert und teuer wurde. Alles ist ein wenig verfallen und schmuddelig hier, außer O’Hara’s gibt es einen Strip-Club, die „Pussycat Lounge“, einen Boxclub, wo man von der Straße aus bei den Sparrings zuschauen kann, und einen Pornovideo-Verleih. Das ist Jimmys Biotop, aber er weiß genau, dass die Tage der alten Greenwich Street gezählt sind. Der einzige Grund, warum sie noch nicht dem allgemeinen Sanierungs- und Verteuerungs-Trend zum Opfer gefallen ist, ist, dass das ganze Viertel seit den Terroranschlägen so in der Luft hängt.

Doch das schicke Leben drängt trotz der Lähmung am Ground Zero in die Gegend. Viele der Finanzfirmen, die bis zum 11. September ihre Niederlassungen rund um das World Trade Center und an der Wall Street hatten, sind nicht mehr zurückgekehrt. Die Konzentration einer Branche an einem Fleck war im Internet-Zeitalter ohnehin ein Anachronismus, das Attentat hat den Dezentralisierungsprozess nur beschleunigt. Die ehemaligen Büroräume in den alten Hochhäusern, oft Art-déco-Prachtstücke aus den 1900er- und 1910er-Jahren, werden jetzt zu schicken Luxus-Lofts ausgebaut.

Es ist in den vergangenen zwei Jahren „cool“ geworden, in den Finanzdistrikt zu ziehen. Die Nähe zur Todesgrube verstärkt sogar noch das Avantgarde-Prestige derer, die sich hierher wagen. „Es ist unglaublich spannend, hier zu wohnen“, schwärmt etwa Ty Osbaugh, ein Designer bei der Architekturfirma Gensler, die ihren Sitz im Viertel auch nach dem 11. September behalten hat. Osbaugh hat sich gerade eine Mansardenwohnung im 30. Stock eines Bürogebäudes von 1907 an der Wall Street gekauft hat. „Das einzige Problem ist, dass es hier noch keine Infrastruktur gibt.“

Doch auch die siedelt sich langsam an. Immer mehr Edelrestaurants und Bistros eröffnen rund um die Wall Street, direkt neben der Börse gibt es seit kurzem ein riesiges Fitness-Studio. Und die teure Supermarktkette Whole Foods hat auf der Greenwich Street, nur Schritte von O’Hara’s entfernt, Räume angemietet. Jimmys Ängste sind berechtigt.

Anders als Jimmy halten Stadtplanungsexperten die beginnende Umwandlung des Viertels in ein Wohnviertel jedoch für eine positive Entwicklung. Man ist sich einig, dass der Finanzbezirk schon lange vor dem 11. September ein problematisches Viertel war. Gewachsene Strukturen mit einem Nebeneinander von Wohnen und Erwerb gab es am „großen Zeh“ von Manhattan, wie das Südende der Insel auch genannt wird, seit hundert Jahren nicht mehr.

Das World Trade Center hat dann in den 70er-Jahren dem Viertel endgültig den Todesstoß versetzt und eine dysfunktionale Büroweltmonostruktur etabliert. Am besten fänden es Experten von den Kritikern der großen Tageszeitungen bis hin zum Bürgermeister deshalb auch, wenn anstatt neuer Bürotürme auch am Ground Zero Wohnungen und Geschäfte entstehen würden.

Leute wie Jimmy und Andy hatten sich hingegen mit dem Finanzdistrikt arrangiert. Auch wenn er nach modernen Planungskriterien ein Monstrum war. Jimmy schenkte den Bankern nach der Arbeit Bier aus, Andy machte ihnen auf dem Weg nach Hause Passbilder und verkaufte ihnen Fotoapparate. „Die Gegend hier ist keine Wohngegend, das ist Blödsinn“, motzt deshalb Andy. Daran, was hier in den kommenden Jahren vielleicht entsteht oder auch nicht, will er gar keine Gedanken verschwenden. Er wird seinen Laden am Trinity Place wohl vermieten und sich in seinem Haus im Stadtteil Queens zur Ruhe setzen.