Opfer wollen endlich mitreden

MISSBRAUCH Betroffenenkongress verabschiedet Forderungskatalog zum Umgang mit sexueller Gewalt

BERLIN taz | Betroffene von sexuellem Missbrauch wollen von der Politik besser eingebunden werden. Diese Forderung ist Teil eines Positionspapiers, das der Kongress „Aus unserer Sicht“ am Wochenende verabschiedete. Mit dem Forderungskatalog wollen die über 100 Teilnehmer, die selbst sexuelle Gewalt in der Familie, im sozialen Nahbereich oder in Institutionen erlebt haben, die Perspektive der Betroffenen in der aktuellen Debatte stärken.

Bei der Arbeit gegen sexuellen Missbrauch müssten verstärkt Betroffene eingesetzt werden, heißt es in dem Papier. Diese seien die besten Experten, da sie über Wissen zu Täterstrategien und Institutionenstrukturen verfügten. In diesem Zusammenhang kritisierte Iris Hölling von der Beratungsstelle „Wildwasser“ die Anlaufstelle der Regierungsbeauftragten Christine Bergmann. Dort müssten ebenfalls betroffene Experten arbeiten, bemängelte Hölling. „Das ist im Moment nicht der Fall.“

Eine Mehrheit der Kongressteilnehmer sprach sich außerdem für eine vollständige Abschaffung zivil- und strafrechtlicher Verjährungsfristen für die sexuelle Misshandlung von Kindern aus. Die zivilrechtliche Frist liegt momentan bei drei Jahren und soll nach dem Willen des Justizministeriums auf 30 Jahre verlängert werden. An der strafrechtlichen Verjährung, die nach zehn Jahren eintritt, soll hingegen nicht gerüttelt werden.

Um Kinder besser schützen zu können, plädierte der Kongress für eine vielfältige Stärkung von Kinderrechten. So solle Tätern die Erziehungsfähigkeit aberkannt werden. Kinder und Jugendliche müssten in jedem Fall eine elternunabhängige Beratung erhalten, die finanzielle Unabhängigkeit von Missbrauchsopfern in der Familie müsse gewährleistet sein. Zudem sprachen sich die Teilnehmer für die Einführung eines „Scheidungsrechts“ von Betroffenen gegenüber ihren Eltern aus, um etwa im Krankheits- und Sterbefall keine erneuten Abhängigkeiten entstehen zu lassen.

In der Debatte um finanzielle Entschädigungen für Missbrauchsopfer begrüßte der Kongress den Vorstoß der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch, die mehr als 80.000 Euro pro Betroffenem fordert. Dies sei „die richtige Dimension“, so Thomas Schlingmann von „Tauwetter“, einer Anlaufstelle für männliche Missbrauchte. Es gebe hier eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung: „Die Gesellschaft als Ganzes hat sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht.“ NIKLAS WIRMINGHAUS