HAMBURGER SZENE VON ROGER REPPLINGER
: Das Buch, der Regen und ich

Es gibt da dieses Mahnmal auf der Verkehrsinsel zwischen Hamburger Straße und Oberaltenallee. Eine zerstörte Mauerecke aus Klinkersteinen, in der ein Mensch kauert. Es mahnt an die Opfer der Bombenangriffe auf die Stadt in der Nacht zum 30. Juli 1943. Es steht hier, weil in dieser Nacht in einem Bunker unter dem Kaufhaus Karstadt 370 Menschen starben.

Auf der Bank neben dem Mahnmal sitzt nie jemand. Ist zu viel Verkehr. Muss aber doch jemand dort gesessen sein, denn heute lag da ein Buch. Es ist das bekannteste von Heinrich Seidel (1842-1906), dem Ingenieur und Schriftsteller: „Leberecht Hühnchen“. Erstaunlich, dass das heute noch gelesen wird.

In „Leberecht Hühnchen“ geht es darum, wie man mit wenig glücklich wird. Dem Leberecht Hühnchen gelingt das. Das einfache Leben, Bescheidenheit, stilles Glück. War ein großer Erfolg – das Buch.

Während ich mit dem Rad an der roten Ampel stehe, blättert der Wind das Buch um. Wenn es heute regnet, und es regnet sicher, ist es kaputt. Soll man das Buch mitnehmen, oder bleibt es besser liegen für jemanden, der nur darauf gewartet hat? Ich hab’ mich noch nicht endgültig entschieden. Ich wohne nicht weit weg, ich bin gleich dort.