Marx zitieren auf dem Schrottplatz

VOR FRANCOS TOD Die Bilder sind grobkörnig, die Beteiligten blieben anonym, Lebensläufe standen auf dem Spiel. Das Instituto Cervantes stellt im Babylon Mitte katalanisches Untergrundkino der 60er und 70er Jahre vor

Der letzte Überlebende reißt sich die Kleider vom Leib und taumelt auf eine Autobahn zu

VON LUKAS FOERSTER

Zwei Männer und eine Frau bereiten in einer Küche eine Mahlzeit vor. Sie unterhalten sich, schälen Kartoffeln, waschen Salat. Dann setzt ein Voice-over-Kommentar ein: „Dieser Film stellt einen Versuch dar, sich den spezifischen Problemen politischer Gefangenschaft anzunähern.“

So beginnt „El sopar“, ein mittellanger Film des katalanischen Experimental- und Undergroundfilmers Pere Portabella. „El sopar“ entstand 1974, ein Jahr vor Francos Tod, auf den ein mühsamer Demokratisierungsprozess folgte. In der Nacht, als der Anarchist Salvador Puig Antich hingerichtet wurde, versammelten Portabella und sein Team fünf ehemalige politische Gefangene in einem Anwesen nahe Barcelona und filmten ihre Gespräche während eines gemeinsamen Abendessens. Es geht um das Leben im und mit dem Gefängnis, um Hungerstreiks, um die Gefahren der Selbstheroisierung und allgemeiner um die Möglichkeiten militanten Widerstands in einem totalitären System, mit dem sich ein Großteil der Bevölkerung längst arrangiert hat. Und von dem sie folgerichtigerweise erst durch den Tod des Diktators erlöst werden wird. Die gemütliche Atmosphäre des abgelegenen Landhauses, die scheinbare Normalität der Zusammenkunft einiger Freunde verkehren sich durch die Gespräche langsam in ihr Gegenteil. Der Film wird zu einem bedrückenden Zeugnis der Isolation und holt auf ungewöhnliche Weise die Erfahrung des Gefangenseins ein.

„El sopar“ (katalanisch: „Das Abendessen“) enthält, um die Beteiligten vor wie hinter der Kamera zu schützen, weder Vor- noch Abspann. Auch andere Filme des Programms „Clandestí: Katalanisches Undergrundkino unter Franco“, das ab heute bis zum 4. Oktober im Kino Babylon Mitte zu sehen ist, wurden zum Zeitpunkt ihres Entstehens anonymisiert. „Clandestí…“ ist auch deshalb ein wichtiges Projekt, weil es den Filmen und ihren mutigen Produzenten die Namen zurückgibt. Die von der spanischen Kulturinitiative Prada und dem Berliner Instituto Cervantes präsentierte Reihe bringt elf Untergrundfilme der 60er und 70er Jahre und einige der Regisseure nach Berlin.

„Clandestí…“ macht ein Kino sichtbar, das den sozialrevolutionären, antikolonialen Filmen Lateinamerikas, den Werken Glauber Rochas etwa, näher steht als dem restlichen europäischen Kino – vom offiziellen Kino der Franco-Ära ganz zu schweigen. Schon, weil man den körnigen, meist schwarz-weißen Bildern ihre technisch prekären Produktionsbedingungen ansieht, aber auch, weil in einem Film wie „El sopar“ nicht nur abstrakte Fragen nach der korrekten ästhetischen und politischen Haltung auf dem Spiel stehen, sondern auch konkrete Lebensläufe.

Die unsichtbare Halbwelt

Die dokumentarischen Filme des Programms liefern Gegenbilder zum immer noch gerne beschworenen Wirtschaftswunder der Franco-Jahre. „El alegre Paralelo“ („Fröhliches Paralelo“), ein kurzer, lyrischer 16-mm-Film, zeigt ungeschönte, raue Impressionen des Straßenzugs El Paralelo im Zentrum Barcelonas. Von der mondänen Vergnügungsmeile, die in den 20er und 30er Jahren Zentrum einer pulsierenden Kulturszene war, ist 1964, im Entstehungsjahr des Films, nicht viel übrig geblieben. Die Kamera verfolgt Passanten und bleibt an Straßenkindern, Bettlern und Schuhputzern hängen. Nachts dominiert die Straßenprostitution, neben dem Stundenhotel findet sich eine Klinik für Geschlechtskrankheiten. Die Regisseure Enric Ripoll i Freixes und Josep Maria Ramon setzen das mit wenig Kommentar in Szene, aus den Bildern spricht Solidarisierung mit und Faszination für die im offiziellen Spanien unsichtbare Halbwelt.

Einer der wenigen klassischen Agitpropfilme des Programms ist „Largo viaje hacia la ira“ („Der lange Weg zur Wut“). Es geht um Arbeitsmigranten in Barcelona, deren Ausbeutung der Film als die Rückseite des Wirtschaftsbooms sichtbar machen möchte. Er tut das mit viel Verve, einer an sowjetischen Stummfilmen geschulten Montageästhetik und der abschließenden Frage: „Hasta cuando?“ – „Wie lange noch?“.

Revolutionsfantasie

Typisch ist ein solch aggressiver Gestus nicht. Die eindrücklichsten Momente der Filme sind eher solche der existenziellen Unsicherheit, des Zweifels oder auch des introspektiven Deliriums. Eine bemerkenswerte Wiederentdeckung ist zum Beispiel der experimentelle Spielfilm „Lock Out“. In der ersten Stunde hängt eine Hand voll junger Aussteiger auf einem Schrottplatz ab, führen wirre Gespräche über marxistische Theorie und drehen noch wirrere Faux-Werbefilme für einen Jogurtproduzenten. In der zweiten Hälfte schlägt der Film um in eine surreale, von hypnotischer Musik angetriebene, sexualisierte Revolutionsfantasie, an deren Ende sich der letzte Überlebende die Kleider vom Leib reißt und auf eine Autobahn zutaumelt.

■ „Clandestí: Katalanisches Untergrundkino unter Franco“: 29. 9. bis 4. 10., Filmkunsthaus Babylon, Programm unter www.cervantes.de