SEXUELLE AGGRESSIONEN IN DEN FRANZÖSISCHEN STREITKRÄFTEN
: Ein Buch sorgt für Furore

VON RUDOLF BALMER

Selten hat die Veröffentlichung eines Buchs der französischen Verwaltung so zügig auf die Sprünge geholfen. Am Tag, als „La Guerre invisible“ (Der unsichtbare Krieg) über Vergewaltigungen, sexuelle Aggressionen und Belästigung in den französischen Streitkräften erschien, kündigte der Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian in Paris eine groß angelegte Untersuchung an. Bis Ende März will er Ergebnisse und Empfehlungen, um mit einem „Aktionsplan“ dem enthüllten Übel Abhilfe zu schaffen.

Dank hartnäckigen Recherchen gelang es den beiden Verfasserinnen, Leila Minano und Julia Pascual, rund fünfzig Opfer zu befragen. Da geht es nicht „nur“ um anzügliche Machowitze und plumpe Anmacherei, die in diesem Milieu fast als „Kulturerbe“ gelten. Die Soldatin Karine* wurde zweimal von Männern ihrer Einheit vergewaltigt; doch ihre Vorgesetzten haben alles getan, um sie zu hindern, Klage einzureichen. Zehnmal musste sie angeblich ihren Bericht umschreiben. Schließlich ließ sie sich krankschreiben, landete nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie und wurde zuletzt ausgemustert.

Ähnlich erging es anderen Frauen: Die Opfer werden isoliert, und dem Image der Einheit zuliebe wird alles vertuscht. „Das Phänomen der sexuellen Gewalt anzuerkennen, würde für (militärische) Institution bedeuten, einen Mangel an Disziplin und Ordnung zuzugeben. Wenn das Opfer Klage einreicht, wird es als Aggressor betrachtet. Der Täter aber bleibt, selbst bei einer Verurteilung“, bestätigt Leila Minano.

Die Kampfjetpilotin Clarisse* berichtet, wie ein Unteroffizier ihrer Luftwaffenbasis pornografische Fotomontagen von ihr verbreitete. Manche männliche Kollegen hätten das bloß lustig gefunden und gefragt, unter welcher Internetadresse sie das „bewundern“ könnten. Es sind nur Beispiele, zum Ausmaß des Phänomens der sexuellen Gewalt in den französischen Einheiten gibt es weder Statistiken noch Schätzungen. Mit rund 15 Prozent weiblichen Militärangehörigen sind die französischen Streitkräfte aber mehr feminisiert als andere in Europa. Es war bisher ein nationales Tabu, was in Kasernen, Camps, Kantinen und Offiziersmessen geschieht. Auch die Autorinnen des Buch über sexuelle Gewalt gegen Frauen in Uniform, waren zuerst mit dieser unsichtbaren Mauer des Schweigens konfrontiert. Nicht umsonst heißt in Frankreich die Armee „la grande muette“, die große Schweigsame.

Erstmals riskieren es nun weibliche Soldatinnen, in den Medien zu berichten, wie sie sexuell belästigt oder angegriffen wurden. Eine Rekrutin berichtet, wie sie von einem betrunkenen Vorgesetzten heimlich beim Duschen gefilmt wurde. Eine ehemalige Sekretärin eines Artillerieregiments möchte nun den Mut finden, um gegen einen heute pensionierten Offizier Klage einzureichen, der sie jahrelang bedrängt und mehrmals vergewaltigt hatte. Die „Schweigsame“ muss Rede und Antwort stehen.

* Namen geändert