„Das ist eine bewusste Irreführung“

Marianne Demmer, Vizechefin der Bildungsgewerkschaft GEW, warnt im Jahr 5 nach Pisa: „Deutschland stagniert“

taz: Frau Demmer, die ersten Jubelmeldungen machen die Runde. Die Rate der 25- bis 64-Jährigen mit Schul- oder Berufsabschluss liege in Deutschland bei 84 Prozent – und damit in den Industriestaaten weit vorne. War der Pisa-Schock nur ein böser Traum?

Marianne Demmer: Leider nein. Die Zahlen, die da hochgezogen werden, sind eine bewusste Irreführung. Das ist im Grunde eine Erfolgsmeldung von vorgestern, als Deutschland mit seiner Berufsbildung für die Industriegesellschaft die Nase vorn hatte. Nur gilt das in der Wissensgesellschaft nicht mehr. Deutschland stagniert seit Jahren, während andere Länder an uns vorbeiziehen – indem sie mehr Menschen zum Hochschulabschluss bringen. Man bezieht sich auf die riesige Altersgruppe der 25- bis 64-Jährigen, um abzulenken von den Bereichen, wo es weh tut.

Der falsche Indikator – welches ist der aussagefähige?

Die OECD wird sie heute wieder thematisieren: Deutschland hat zu viele Risikoschüler, fast ein Viertel der 15-Jährigen kann kaum lesen. Dafür hat das Land viel zu wenig Hochschulabsolventen – und investiert auch viel zu wenig.

Die Politik hat doch gegengesteuert, seit Pisa erschien?

Verbal ja, ansonsten herrscht doch das reinste Chaos. Wir sehen in Deutschland einen Flickenteppich, teilweise sind es völlig unterschiedliche bildungspolitische Strategien. Rhetorisch klingt das überall gleich: individuelle Förderung jedes Schülers. Aber konkret bedeutet das oft das Gegenteil, etwa wenn Nordrhein-Westfalen die dreigliedrige Schule und damit das Lernen im Gleichschritt propagiert.

Wo müssten die Schwerpunkte liegen?

Wir brauchen ein abgestimmtes Vorgehen aller Bundesländer, das endlich das Hauptproblem angeht: den engen Zusammenhang von Herkunft und Bildungserfolg. Daraus leitet sich alles andere ab. Es braucht mehr Investitionen in Köpfe. Deutschland muss seinen Finanzierungsrückstand aufholen, gerade bei Kindergärten – Stichwort: Beitragsfreiheit – und Hochschulen. Und wir müssen jedem Jugendlichen eine Eintrittskarte in den Beruf lösen – egal ob im dualen System oder in schulischen Maßnahmen. INTERVIEW: CIF