So progressiv im Stillstand

Wären musikalische Genres keine musikalischen Genres, sondern Religionen, dann wären die Anhänger des aktuellen Progressive Rock die Mormonen – ein wenig aus der Zeit gefallen, sehr konservativ und mehr als nur ein bisschen verrückt.

Ihr Altes Testament, das sind die Platten der unverrückbar großen Altvorderen aus den Siebzigerjahren: Genesis, King Crimson, Yes, Emerson, Lake & Palmer, Jethro Tull. Womöglich noch ein wenig Pink Floyd. Das war’s, und damit geht’s schon los. Denn wahrhaft progressive (im Wortsinn: „fortschreitende“) Gruppen wie Van Der Graaf Generator, deren Chef Peter Hammill im Alleingang den Punk mit vorbereitete, finden im Kanon des Progrock-Fans keinen Platz. Ganz zu schweigen von einem Außenseiter wie Frank Zappa, der in Sachen Virtuosität, Intelligenz und Innovationsfreude die komplette Konkurrenz in den Sack steckte, nebenbei aber leider so giftig und unsentimental war, dass der klassische Progger davon Sodbrennen bekommt.

Das Neue Testament schrieben dann in den Achtzigerjahren zurecht vergessene Kapellen wie Marillion, Pendragon, IQ, Twelfth Night oder Pallas, die vor der Folie der damals ubiquitären New Wave oft angestaubt und bemüht klangen. Unvergessen ist aus dieser Ära eigentlich nur Saga – die einzige Gruppe, der druckvolles Mucker-Gefrickel wichtiger war als die üblichen Pathosformeln des Genres.

Das Buch Mormon nun, um im Bild zu bleiben, erzählt die Geschichte der aktuellen, nunmehr dritten Prog-Welle. Deren Hohepriester heißen Spock’s Beard, Jadis, Enchant, Transatlantic – und eben Porcupine Tree. Ihre Platten klingen für Nichtgläubige allesamt ein wenig unheimlich und zäh, als wäre die Zeit stehen geblieben und, weil sie gar so lange stand, inzwischen auch schon reichlich abgestanden. Überlänge soll episch wirken, vor jeder melodiösen Entladung steht die behutsame Dissonanz, Rhythmen werden so routiniert wie vorhersehbar gewechselt, und das mäandernde Gitarrensolo soll eigentlich immer so klingen, wie David Gilmour zu besten Pink-Floyd-Zeiten klang. Nichts Neues also unter der Sonne?

Ach, wenn’s doch nur so wäre. Doch die eigentliche Tragik des Proggers besteht in seiner Ignoranz. Bahnbrechendes oder wenigstens Neues – sei’s Sufjan Stevens, sei’s Mars Volta, sei’s Grandaddy oder vielleicht Radiohead – wird der Progger nicht erkennen, auch wenn man es ihm vor den Bauch schnallte. Toll ist übrigens „Insurgentes“, das Soloalbum von Steven Wilson von Porcupine Tree. Mit seiner Band traut er sich sowas nicht. Er kennt seine Pappenheimer. ARNO FRANK

■ Porcupine Tree: Admiralspalast, Mittwoch, 20 Uhr. VVK: 30 €