Die Unparteiischen (10): Joachim Radatz, Erziehungswissenschaftler
: Sollte die Hauptschule zugemacht werden?

Am Sonntag wird gewählt. Die wirklichen Fragen hat die Politik jedoch ausgeklammert. Die taz stellt sie – und lässt Unparteiische antworten.

Schon früher konnten Volksschüler und -schülerinnen nicht richtig rechnen und schreiben. Eine repräsentative Untersuchung des Deutschen Industrie- und Handelstages aus dem Jahr 1966 attestierte bereits jedem fünften Lehrling mangelhafte Rechtschreibung und jedem zweiten erhebliche Lücken im Rechnen.

Besondere Probleme, ins Berufsleben zu starten, hatten die jungen Leute damals nicht. Aus schlechten Schülern wurden gute Handwerker. Die Arbeitslosenquote betrug 0,7 Prozent. Ob die Hauptschule eine „Restschule“, eine „Sackgasse“ oder sonst etwas Niederträchtiges ist, entscheidet nämlich der Arbeitsmarkt.

In Berlin fehlen derzeit mehr als 13.000 Lehrstellen, knapp 35.000 Arbeitslose sind jünger als 25 Jahre. Doch dafür die Hauptschule verantwortlich zu machen ist absurd. Sie ist weder schuld an der bildungspolitischen Misere noch am arbeitsmarktpolitischen Desaster.

Würde man die Hauptschulen abschaffen, würde sich die schlechte berufliche Perspektive von Absolventen der sogenannten unteren Bildungsgänge nicht verbessern. Pauschale Vorwürfe an Arbeitgeber, sich eine goldene Nase zu verdienen, ohne sich hinreichend in gesellschaftlicher Verantwortung zu üben, führen ganz gewiss auch nicht weiter.

Betriebe entscheiden sich für BewerberInnen, die aus personalwirtschaftlicher Sicht am besten zum Unternehmen passen. Schülerinnen und Schüler, die keinen oder lediglich den einfachen Hauptschulabschluss vorweisen können, tun das – nach landläufiger Meinung – eben gerade nicht und haben deshalb kaum Chancen auf ein Vorstellungsgespräch.

Ungeachtet ihrer nicht benoteten, beruflichen Fähigkeiten landen sie in den sogenannten Warteschleifen außerbetrieblicher Bildungsmaßnahmen. In Berlin drehen dort mittlerweile weit mehr als 5.000 Jugendliche ihre vom Staat mit hohen Summen geförderten Pirouetten. Nach Abschluss einer Maßname folgt die nächste. Manchmal schließt sich auch eine außerbetriebliche Ausbildung an, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Arbeitslosigkeit führt.

Für Jugendliche, deren Eltern Arbeitslosengeld II beziehen, kann es noch schlimmer kommen. Sorgenvoll ist zu beobachten, dass sie in Arbeitsgelegenheiten, den sogenannten 1-Euro-Jobs, beschäftigt werden, die per Definition nicht in erwerbswirtschaftlichen Bereichen angesiedelt sein dürfen und folglich zur Anbahnung von Arbeits- und Ausbildungsverhältnissen gänzlich ungeeignet sind.

Schluss mit diesem Förderwahnsinn! Schluss mit dem törichten Glauben, die große Arbeitsmarktreform würde alles richten, ohne die ebenso einfache wie entscheidende Tatsache zu berücksichtigen, dass eine berufliche Perspektive für Schüler und Schülerinnen nur dort entwickelt werden kann, wo es für sie eine Chance auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gibt. Ressourcen, die im außerbetrieblichen System der beruflichen Bildung verpuffen oder zur Finanzierung zweifelhafter Arbeitsdienste herhalten, werden an anderer Stelle gebraucht. Sie müssen für eine Zusammenarbeit zwischen Betrieben und Schulen eingesetzt werden, die den Übergang von SchülerInnen ohne höheren Schulabschluss in betriebliche Ausbildungs- und sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse ermöglicht und absichert.

Durch den direkten Kontakt zu Betrieben bekommen „schlechte“ Schüler eine fairere Chance. Denn wer schlecht rechnet oder schreibt, kann möglicherweise etwas anderes besser. Fähigkeiten, auf die es im Arbeitsleben ankommt – Pünktlichkeit, soziale Kompetenz, Geschicklichkeit, Fleiß und Loyalität –, werden durch die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Betrieben frühzeitig wahrgenommen. Das kann Türen öffnen. Die Schule, die die Jugendlichen vorab besucht haben, wird so zu einem Baustein un- ter anderen. Dem Gefühl der Zukunftslosigkeit, das viele jugendliche HauptschulabgängerInnen haben, würden dabei zudem motivierendere Perspektiven entgegengesetzt.

Joachim Radatz

Morgen: Profitiert Berlin von der Armut? Es antwortet: Sabine Werth, Berliner Tafel