Anachronistisch wie Omas Kaffeemühle

BETRIEBSSYSTEM Microsoft aktualisiert Windows XP nicht mehr – es verschwindet ein Kulturgut, das mehr als ein Jahrzehnt lang Millionen von Nutzern brauchbare Dienste erwiesen hat. Ein Nachruf

Das Programm war irgendwann wie ein ausgeleierter Sweater: nicht gerade schön, aber praktisch

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

„Bliss“, Glückseligkeit – kein unpassender Name für dieses farbintensive Bild: ein mit knallgrünem Gras überwachsener Hügel vor einem tiefblauen, mit weißen Wölkchen betupften Himmel. Angeblich nicht einmal digital nachbearbeitet werden musste das Foto, das der ehemalige National-Geographic-Fotograf Charles O’Rear 1996 im kalifornischen Weinanbaugebiet Napa Valley schoss.

Fünf Jahre später sollte das Bild zu einer globalen Ikone werden: Als Microsoft 2001 sein Betriebssystem Windows XP auf den Markt brachte, diente das Foto als vorinstalliertes Desktop-Bild und inspirierte mit seinem hoffnungsvoll-positiven Farbschema Grün-Blau die gesamte 200 Millionen Dollar teure Werbekampagne, mit der die Software auf den Markt gebracht wurde. Seither ist nicht mehr die „Mona Lisa“ oder das „Letzte Abendmahl“ das am häufigsten angesehen Bild der Welt, sondern das Foto von einem Weinberg, der nur deshalb mit grünem Gras überwuchert war, weil die dort angepflanzten Weinstöcke gerade einer Pflanzenseuche zum Opfer gefallen waren.

„Ein Betriebssystem sollte man eigentlich nie zu sehen bekommen“, hat Linus Torvalds, der Schöpfer des Betriebssystems Linux, einmal gesagt. „Es ist nur die Grundlage, auf der die anderen Computerprogramme laufen.“ Doch die Betriebssysteme aus dem Hause Microsoft nicht zur Kenntnis zu nehmen ist unmöglich – nicht nur wegen der bombastischen Werbekampagnen, mit denen sie auf den Markt gebracht werden. Diese Programme sind selbst eine Art Massenmedium geworden, mit dem ihre User oft mehr Zeit verbringen als mit den eigenen Kindern oder dem Ehepartner.

Diese innige Union mit einem Stück Software endet für die verbliebenen Nutzer von Windows XP allerdings am 8. April. An diesem Tag veröffentlicht Microsoft das letzte Sicherheits-Update für das Programm. Wer es danach weiterbenutzt, tut dies auf eigene Gefahr: Ohne laufende Aktualisierungen dürfte das Programm zum bevorzugten Angriffsziel für Hacker werden, die sich auf die wachsenden Sicherheitslücken einschießen werden. Gut dreizehn Jahre war Windows XP dann weltweit im Einsatz – für ein Betriebssystem ein biblisches Alter.

Dennoch laufen weltweit immer noch fast 30 Prozent aller Computer mit dem betagten Programm. Das sind schätzungsweise 400 Millionen Rechner; in China sollen es sogar drei Viertel aller PCs sein. In Deutschland hatte im Januar 2014 immerhin noch ein Zehntel aller Rechner Windows XP installiert.

Dabei war XP einst kein übermäßig innovatives Update der Software, die Bill Gates zu einem der reichsten Männer der Welt gemacht hat. Es war nicht das erste Microsoft-Betriebssystem mit einem grafischen Interface, das man ohne Kenntnis der Programmiersprache DOS einfach per Mouseklick bedienen konnte. Das war einst Windows 3.11. Windows 95 führte die „Plug&Play“ genannte Möglichkeit ein, neue Hardware zu erkennen und automatisch deren Treiber zu installieren; Windows 97 integrierte Multimedia-Applikationen. In Sachen Benutzerfreundlichkeit und Stabilität hinkten all diese Programme der Konkurrenz von Apple sowieso um Jahre hinterher.

Doch Windows XP lief für ein Produkt aus dem Hause Microsoft von Anfang an verhältnismäßig störungsfrei – was mehr ist, als man über seinen Nachfolger Vista oder das gegenwärtig aktuelle Windows 8 sagen kann. Und es war ein schlankes Programm, das an die Systemressourcen des Computers keine übermäßigen Ansprüche stellte – eine Eigenschaft, die gerade in technologisch weniger entwickelten Ländern sehr geschätzt wurde.

Je schneller die Rechner in den kommenden Jahren wurden, desto problemloser und unauffälliger funktionierte XP. Das Programm war irgendwann ein bisschen wie der ausgeleierte Sweater, den man nicht hergeben will, weil er so bequem ist: nicht gerade schön, aber praktisch. Wer es einmal auf dem Rechner hatte, sah wenig Grund, es durch ein unausgegorenes Nachfolgeprodukt zu ersetzen. Microsoft verzettelte sich in den folgenden Jahren mit der Entwicklung eines neuen Betriebssystem so gründlich, dass „Longhorn“ schließlich unvollendet eingestellt werden musste.

So blieb XP auf den Rechnern der vielen Menschen installiert, die sich nicht alle fünf Jahre einen neuen Computer anschaffen wollten, nur weil Microsoft ein neues Betriebssystem fertiggestellt hatte, das einer schnelleren Maschine bedurfte. Der lang andauernde Erfolg des Programms ist daher auch ein stiller Protest gegen die spezielle Variante der geplanten Obsoleszenz, die die Computerindustrie ihren Kunden aufzwingt. Wer mit seinem Rechner nur schreiben und ein bisschen im Internet surfen will, braucht im Grunde immer noch nicht mehr als das Windows XP von 2001.

So verschwindet ein weiteres Programm, mit dem Millionen von Menschen jahrelang gearbeitet haben, in den ewigen digitalen Jagdgründen, und damit ein Stück postindustrielles Kulturgut. So anachronistisch Omas Kaffeemühle im Zeitalter des Kaffee-Pads auch wirken mag – der staunende Nachkomme kann sie sich noch immer im Völkerkundemuseum oder auf dem Dachboden ansehen. Wer seinen Enkeln irgendwann mit Windows XP den jahrelangen eigenen Arbeitsplatz zeigen möchte, dürfte dabei allerdings weniger Glück haben.