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Flucht über die nasse Grenze

REPUBLIKFLUCHT Eine Ausstellung in der Sparkasse am Brill zeigt, wie BürgerInnen der DDR über die Ostsee in den Westen geflüchtet sind

von Hendrik Heuer

5. November 1986, 6 Grad. Mit dem orangen Surfbrett Richtung Freiheit. Vier Stunden kämpft sich Karsten Klünder durch die kalte Ostsee. Die Hände fest am gelb-blauen Segel. Die Angst entdeckt zu werden immer im Nacken. Gleichzeitig die Sorge um seinen Freund Dirk Deckert, den er aus den Augen verloren hat. Und von dem er nicht weiß, ob er vielleicht erwischt wurde.

Karsten Klünder und Dirk Deckert ist einer der spektakulärsten Fluchtversuche über die Ostsee gelungen. Die Freunde flüchteten auf selbstgebauten Fun-Boards, einer Art Surfbrett.

Hauptgrund für Klünders Flucht aus der DDR war, dass „irgendwelche Leute, die ich noch nichtmal kannte, über meine Zukunft entschieden haben.“ Er beschreibt seine Flucht als „große Aufgabe“. Vorbereitet hat er sich auf diese Aufgabe ganz unbewusst.

Im Fluchtjahr war er zusammen mit seinem Freund drei Monate surfen. „Zu dem Zeitpunkt noch aus Spaß“, sagt Kündler. Ernst wurde es dann, als sein Freund Dirk den Einberufungsbefehl fürs Militär bekam. Kündler hatte während des Militärdiensts erlebt, wie Leute erschossen worden waren. Aber nicht aus politischen Gründen oder an der Grenze, sondern „aus Blödsinn und Unachtsamkeit - Unfälle halt“.

Zur Flucht hatten sich die Freunde schon lange entschlossen. Die Einberufung zur NVA legte nur noch den Termin fest. „Wir haben dann einfach das gemacht, was wir am besten konnten“, sagt Kündler.

Sein Surfbrett und die selbstgebaute Ausrüstung sind Teil der Ausstellung „Über die Ostsee in die Freiheit“. Zu sehen gibt es die seit Montag in der Sparkasse am Brill. Passend zum Tag der Deutschen Einheit zeugt sie von erfolgreichen und erfolglosen Fluchtversuchen. Nach Bremen geholt wurde die Wanderausstellung von der Sparkasse und der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Neben einem Schlauchbot werden auch verschiedene andere Schwimmfahrezuge ausgestellt. Bernd Böttger wagte die Flucht mit dem von ihm erfundenen „Aqua-Scooter“, einem motorbetriebenen Wasserschlitten. Beim ersten Versuch wird er ertappt und sein Schlitten beschlagnahmt. Im zweiten Versuch gelingt ihm dann die Flucht.

Im Westen patentiert er seine Erfindung. Verkauft wird sein Wasserschlitten an Wassersportler und die US-Navy. Wenige Jahre nach seiner Flucht stirbt Böttger dann unter ungeklärten Umständen in Spanien.

Die Flucht über die Ostsee unterschied sich wesentlich von der Überquerung der innerdeutschen Grenze. Im Inland habe man fünf Kilometer Sperrgebiet überwinden müssen und gewusst, dass geschossen wird, sagt Christine Vogt-Müller. Sie ist Historikerin und hat die Ausstellung konzipiert. Viele Flüchtlinge hätten geglaubt, dass „die Ostsee doch ein bisschen freier wäre“. Doch dabei haben sie sich geirrt. „Natürlich war sie nicht freier – das dokumentieren wir in dieser Ausstellung“, so Vogt-Müller. Trotzdem gab es eine Chance, die Grenze zu überwinden. Von 6892 Flüchtlingen an der Ostseegrenze haben es 913 Menschen geschafft. Die meisten anderen landeten im Gefängnis. 174 Flüchtlinge kamen bei der Flucht ums Leben.

■ Die Ausstellung ist in der Sparkasse am Brill zu sehen und läuft noch bis zum 22. Oktober

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