90.000 gegen Nahles

BUNDESTAG Hartz-Rebellin Inge Hannemann fordert vor dem Petitionsausschuss das Ende der Hartz-IV-Sanktionen. Aber das Arbeitsministerium mauert. Entscheidung wird vertagt

BERLIN taz | Die Ex-Jobcenterberaterin Inge Hannemann hat eine Mission: Arbeitslosen helfen. Das hat sie ihren Job gekostet und gestern in den Bundestag geführt. Der Petitionsausschuss beriet dort über ihre Forderung. Darf Geld, das gerade zum Überleben reicht, zusammengestrichen werden, wenn ein Arbeitsloser sich weigert, für fünf Euro pro Stunde zu arbeiten?

Hannemann sagt: Nein. Ihre Petition hatten 90.000 Menschen unterzeichnet; darin fordert sie den Wegfall von Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger. „Wir leben in einem demokratischen Sozialstaat – und wir streichen vom Minimum, bis die Leute in der Obdachlosigkeit landen“, sagte Hannemann vor dem Ausschuss. „In so einem reichen Land wie Deutschland, das kann nicht sein.“ Die Kürzung des ohnehin knappen Existenzminimums nennt sie „soziale Exklusion“. Bestärkt sieht sie sich durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts.

Dabei war Hannemann lange selbst Teil des Sanktionsapparats: als Mitarbeiterin im Jobcenter Hamburg-Altona. Derzeit streitet sie mit ihrem Arbeitgeber vor Gericht – das Jobcenter hatte sie wegen ihrer Kritik an Hartz IV suspendiert, die Medien machten sie daraufhin zur Hartz-Rebellin.

„In meiner Arbeit habe ich immer wieder festgestellt, dass Sanktionen nichts helfen“, sagt Hannemann. Eher im Gegenteil, die Drohhaltung verschrecke viele Menschen, meint sie.

Für das Arbeitsministerium verteidigte Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) die Strafen. „Wollen wir ein System, in dem Sozialleistungen voraussetzungslos gewährt werden? Nein.“ Nach Ansicht des Ministeriums müssen sich Empfänger an die Regeln halten – einzige Möglichkeit dazu: die Daumenschraube Existenzminimum.

Allerdings prüfe seit Herbst eine Arbeitsgruppe, wie hoch der bürokratische Aufwand dafür sei. Die Linke will die Sanktionen abschaffen, die Grünen wünschen sich mehr Rechte für die Arbeitslosen.

Der häufigste Grund für Sanktionen ist das Versäumen von Terminen. „Warum sollen sich Arbeitslose denn ein Fahrticket für ein 10-Minuten-Gespräch kaufen, von dem sie wissen, dass es nichts hilft“, sagte Hannemann. Der Petitionsausschuss traf gestern noch keine Entscheidung. Weitere Termine im Bundestag stehen noch nicht fest.

FERDINAND OTTO