Panorama eines Kriegstheaters

GESCHÄFTE Ein grandioses Epos über den Drogenkrieg: Don Winslow verwandelt in „Tage der Toten“ Artikelberge in einen von dramatischen Wirbeln durchzogenen Erzählfluss

Der Mohn brennt. Rote Blüten, rote Flammen. Nur in der Hölle, denkt Keller, gibt es flammende Blüten. Er blickt in das brennende Tal wie in eine dampfende Suppenschüssel – was sich dort zwischen den Rauchschleiern abspielt, ist eine Höllenszene. Hieronymus Bosch malt den Drogenkrieg.“ So setzt Don Winslow in seinem grandiosen grausamen Epos „Tage der Toten“ an, die Genealogie des Niedergangs von Mexiko, das gerade, inmitten einer weltweit einzigartigen Orgie von Gewalt, seinen 200. Unabhängigkeitstag feiert, nachzuzeichnen.

Sein Beginn datiert in das Jahr 1975. Richard Nixon hat den „War on Drugs“ erklärt, die neu gegründete Drug Enforcement Agency (DEA) rekrutiert ihr Personal vornehmlich aus CIA-Angehörigen der ehemaligen Vietnamtruppe, und daher rücken nun, wie Keller beobachtet, „die Jungs von Air America, die früher Heroin für thailändische Warlords geflogen haben, dem mexikanischen Opium mit Entlaubungsgiften zu Leibe“. Die Mexikaner spielen mit – denn relevante Kreise können mit dem Wegfall des Mohns ihr Geschäft endlich auf das Weiterleiten von kolumbianischem Kokain in die USA umstellen. Sind die Bauern erst draußen, reduziert sich das Drogengeschäft auf eine weitgehend logistische Angelegenheit und wird damit erst richtig lukrativ.

Auch Art Keller, der auf die brennenden Mohnfelder schaut, gehört zu den aus Vietnam übernommenen CIA-Kader der DEA. Der Drogenfahnder, der, von seinem Wunsch nach Rache besessen, die Apparate der Geheimdienste und der Drogenmafia zu seinen ganz eigenen Zwecken nutzt, ist das Zentrum des Buchs; um ihn herum gruppiert Don Winslow einen ganzen Reigen von Charakteren und Zirkeln, die Mafia und ihr irischer Auftragskiller Callahan in New York, Haley Saxon und Call-Girl-Geschäfte in San Diego oder Padre Juan und die Katholische Kirche in Mexiko.

Auch Keller ist, weil Halblatino, katholisch. Entsprechend schuldbewusst, doch zugleich skrupellos ist er Zeuge, Täter und Ermittler in einem Drogenkrieg, in dessen 30-jährigem Verlauf er die Präsidenten Reagan, Bush Senior, Bill Clinton und Bush Junior kommen und gehen sieht. In dieser Zeit, zwischen 1975 und 2004, als Keller einigermaßen glimpflich dem Irrsinn seines Fahnderdaseins entkommt, fliegt die Iran-Contra-Affäre auf, gelangen die Sandinisten an die Macht und verlieren sie wieder, wüten die salvadorianischen Todesschwadronen, macht ein Erdbeben Mexico City dem Erdboden gleich, durchkreuzen sich die Intrigen der amerikanischen Geheimdienste und erfolgt die Invasion der US-Army in Panama. Und allmählich türmen sich in dieser Zeit auch die entsprechenden politischen Hintergrundberichte zu Bergen.

„Tage der Toten“ ist das literarische Wunder, in dem Don Winslow diese Artikelberge in das Sediment eines mitreißenden, von dramatischen Wirbeln und Stromschnellen durchzogenen Erzählflusses verwandelt und zermalmt. Sein Roman erscheint wie ein abenteuerlicher Raftingtrip in fünf Akten, in dessen Verlauf man die Schauplätze der Tragödie direkt ansteuert, wobei der Kurs der erzählerischen Wildwasserfahrt auch immer wieder die Sicht auf das weite Panorama des Kriegstheaters freigibt. Und immer wieder werden in knappen, treffsicheren Dialogen die Interessen deutlich, die dafür sorgen, dass das Geld für den Kampf gegen die Drogen gleichzeitig deren Produktion und Handel mitfinanziert, wird also das Sediment – die Realität des War on Drugs – hochgespült, in der lebhaften Gischt der grausamen Mordszenarien, die einen wie eine kalte Dusche überkommt. Und am Ende bangt man doch glatt um die Liebesgeschichte Callahans, des irischen Auftragkillers. BRIGITTE WERNEBURG

Don Winslow: „Tage der Toten“. Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte. Suhrkamp, Berlin 2010, 689 Seiten, 14,95 Euro