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Loch ohne Boden

Frei vom Sound der Betroffenheit: „Mysterious Skin“ von Gregg Araki ist ein poppiger Film über Missbrauch

Außerirdische mögen seltsame Angewohnheiten haben, eine jedoch gehört mit Sicherheit nicht dazu: Baseballschuhe zu tragen. Ein Detail, für das Brian (Brady Corbet), einer der beiden Protagonisten in Gregg Arakis „Mysterious Skin“, seit Jahren blind ist. Stets trägt der Außerirdische, den er unermüdlich in seinen Malblock zeichnet und von dem er – davon ist Brian fest überzeugt – vor exakt zehn Jahren, fünf Monaten und sieben Tagen entführt wurde, diese Schuhe. Es braucht erst einen Freund, der sich an dieser Merkwürdigkeit stößt, und für Brian, einen verschüchterten Brillenträger mit Hang zum Nasenbluten und Ohnmächtigwerden, bricht die Welt zusammen.

Neil (Joseph Gordon-Levitt), der zweite Protagonist in „Mysterious Skin“, erscheint ebenfalls einigermaßen kaputt, wenn auch auf völlig andere Art. „Wo andere Menschen ein Herz haben, hat Neil ein schwarzes Loch ohne Boden“, warnt seine beste Freundin junge Männer, die Gefahr laufen, sich in den Stricher zu verlieben. Wie Brian ist Neil 18 Jahre alt; er läuft mit stoisch verhärteter Mine durch den Cruising-Park und beschwert sich, dass er schon mit jeder Schwuchtel in diesem gottverdammten Kaff zweimal Sex hatte. Einmal zu viel also.

Neils und Brians Wege werden sich erst am Ende des Films kreuzen, und doch ist von Anfang an klar, dass die beiden miteinander verbunden sind – als Antipoden ein und desselben Traumas. Es hat etwas mit dem Trainer ihres früheren Baseballteams zu tun. Und mit dessen Schuhen. Der amerikanische Regisseur Gregg Araki wagt mit „Mysterious Skin“, einer Adaption des gleichnamigen Romans von Scott Heim, nicht nur, sich für das in Filmen stets heikle Thema Kindesmissbrauch zu interessieren, ohne auf den Täter und seine Motive einzugehen – über „Coach“ erfährt man nicht viel mehr, als dass er sogar noch eine Polaroidkamera zum Missbrauchsinstrument umfunktionieren kann. Araki weigert sich zudem, den Film mit einem Betroffenheits-Basso-continuo zu unterlegen. Im Gegenteil: Er beharrt auf seinem aus „Nowhere“ (1997) und „Totally F***ed Up“ (1993) bekannten Hang zur Stilisierung, ja zur Over-the-top-Schrillheit – wenn auch in abgemilderter Form. In „Mysterious Skin“ kann es zwischendurch schon mal arg kitschig bunte Froot Loops regnen, ertönt mitten in der Nacht wie selbstverständlich Gottes Wort durch die Platzlautsprecher eines Autokinos, schwebt ein Ufo über Brians Elternhaus. Und dies ist noch nicht mal ein Traum.

Die Ufo-Besuche, an denen auch Brians Mutter und Schwester keine Zweifel haben, dienen Araki nicht nur zum Amüsement. Sie sind treffende Bilder für die Kraft, die Autosuggestion entfalten kann, wenn familiäre Traumata verschwiegen bleiben und sich in Mythen übersetzen – und seien sie noch so spinnert. Das Casting der Darsteller Chase Ellison und George Webster (die Brian und Neil als Achtjährige spielen und bei den Dreharbeiten nicht erfahren durften, worum es in dem Film geht), die Gratwanderung zwischen Kitsch und Brutalität, die Lust der Kamera auch an „schönen“ Bildern: Verdammt viel hätte Gregg Araki in „Mysterious Skin“ misslingen können. Sein Mut ist belohnt worden – nicht nur mit einem überaus sehenswerten Film, sondern auch mit einem wunderbaren Score von Ex-Cocteau-Twin Robin Guthrie und Ambient-Music-Legende Harold Budd.

JAN KEDVES

„Mysterious Skin“ läuft im Central-Kino

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