LESERINNENBRIEFE
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Europa. Welches Europa?

■ betr.: „Vor der Abschiebung in den Knast“, taz vom 27. 9. 10

In ihrem Artikel geht Frau Schädler in drei wichtigen Aspekten an den eigentlichen Punkten vorbei: Beim Lamentieren über die ungenügende Umsetzung der EU-Richtlinie vergisst man erstens leicht, dass das Einsperren der Menschen zur Durchsetzung eines Verwaltungsaktes (der Abschiebung) der eigentliche Skandal ist. Diese Freiheitsberaubung wird zweitens nicht dadurch erträglicher, dass sie, wie z. B. in Berlin, im sogenannten „Polizeigewahrsam“ durchgeführt wird. Auch das ist ein ordinäres Gefängnis, errichtet als Knast mit Mauern, Zellen, Gittern, Schließern, Anstaltsessen und ständigen Leibesvisitationen. Zur Kriminalisierung braucht es keine strafgefangenen Nachbarn, wenn die Situation von außen nicht unterscheidbar ist und innen sogar noch durch fehlende anwaltliche Vertretung und fehlende Beschäftigung verschärft wird. Dazu noch häufige Fesselungen bei Transporten zu Botschaftsvorführungen, Ärzten oder Haftverlängerungsterminen beim Amtsgericht – und fertig ist das Bild vom gefährlichen Außenseiter.

Und auf was für ein Europa wollen wir uns denn berufen, um weichgespülte Knäste zur Selbstberuhigung zu sehen? Auf ein Europa, das mit Frontex militärisch organisiert gegen Flüchtlinge vorgeht und ungezählte Tote vor seinen Grenzen in Kauf nimmt? Auf ein Europa, das Flüchtlinge intern hin und her schiebt („Dublin II“)? Auf ein Europa, das in Griechenland Horror-Lager für Flüchtlinge bereithält und ein Asylverfahren nur als Fata Morgana kennt? Auf ein Europa, das Bürger abschiebt, wenn sie Roma sind? MARTIN SCHRÖTER,

Initiative gegen Abschiebehaft, Berlin

Wo die Wasserwerfer wüteten

■ betr.: „Der schwäbische Pflasterstein“, taz vom 2. 10. 10

Als Stuttgarter Bürgerin, die am Donnerstag bei den Ausschreitungen der Polizei direkt vor Ort war, nehme ich Stellung zu zwei der im Artikel zitierten Aussagen: „Es flogen keine Pflastersteine, (…) sondern lediglich Kastanien.“ Ja, es flogen Kastanien. Allerdings wurden diese nicht von Demonstranten geworfen, sondern von den Strahlen des Wasserwerfers von den Bäumen „geschossen“, so dass sie selber wie Geschosse durch die Gegend flogen und die Demonstranten in zusätzliche Gefahr brachten.

„Unter den Planen und Regenschirmen hat man es vor dem Wasserwerfer schon aushalten können“ (Polizeipräsident Stumpf).

Wie gut man es unter den Planen aushalten konnte, haben ich und viele andere am eigenen Leib spüren können. Im Bemühen, zu meinem Sohn zu gelangen, der an dem Schüler- und Jugendstreik „Bildung statt Prestigebahnhof“ und der bewilligten Schülerdemo teilnahm, befand ich mich zeitweise unter einer blauen Plastikplane, welche gezielt von Wasserwerfern beschossen wurde. Unter der Plane wurde infolge von Pfefferspray oder ähnliches gehustet, dazwischen skandierten wir: „Friedlich bleiben!“ Mehrere Strahlen des Wasserwerfers trafen mich – unter der Plane! – mit einer unglaublichen Wucht an Kopf und Arm. Folge: eine Beule am Kopf und eine Prellung mit Bluterguss über den gesamten Oberarm.

Mein Sohn, der sich mit anderen Jugendlichen unter einer weißen Plane zu schützen versuchte, berichtete, dass der Strahl so stark war, dass er Löcher in die Plane schoss. Meine Freundin erlitt infolge des Wasserwerferstrahls Prellungen mit Blutergüssen am Rücken, ein Bekannter meines Partners zwei Rippenbrüche. Mein Partner wurde umgestoßen, als die Polizei die Demonstranten mit Gewalt zurückdrängte, und erlitt eine Prellung und Bänderzerrung am Fuß. Dort wo der Wasserwerfer gewütet hatte, sah es hinterher aus wie im Krieg, der Weg hinter dem Biergarten war gepflastert mit kaputten Regenschirmen. So gut hatte man es offenbar doch nicht darunter aushalten können. GUNTRUN MÜLLER-ENSSLIN, Stuttgart

BürgerInnen partizipieren

■ betr.: „Bei uns entscheiden Parlamente, niemand sonst“,taz vom 4. 10. 10

Es freut mich, dass sie dieses krasse Zitat von Bahnchef Grube auf die Titelseite gesetzt haben. Als Politiklehrerin sträuben sich mir die Haare bei so einem Blödsinn. Partizipationsmöglichkeiten der Bürger/innen auch zwischen den Wahlen sind Bestandteil jedes Lehrplanes im Fach Politik. Politische Macht leitet ihre Legitimität allein aus einer intakten, das heißt freien Öffentlichkeit mit politisch mündigen und handlungsbereiten Bürgern/Bürgerinnen her.

SABINE NOWAK, Maierhöfen