„Estonia“-Untergang neu untersucht

Abgeordneter will Belege für bisher unbekannte Tauchgänge zum Wrack der Fähre haben. Damit werden Spekulation genährt, wonach eine geheime Waffenladung für die Katastrophe verantwortlich war. Schwedens Justiz leitet neue Ermittlungen ein

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Wurde doch etwas vertuscht? Zwölf Jahre nach dem Untergang der Ostseefähre „Estonia“ wird in Schweden erneut ermittelt. Ausgelöst wurde die neue Untersuchung durch Berichte, wonach es unmittelbar nach der Katastrophe am 28. September 1992 bislang unbekannte Tauchaktivitäten am Wrack gegeben haben soll. Weil die Untergangsstelle von der schwedischen Marine bewacht wurde, kommen dafür eigentlich nur schwedische Behörden oder „befreundete Dienste“ in Frage. Das führte umgehend zu Spekulationen, dass die Fähre in der Unglücksnacht womöglich doch eine geheime Fracht für den schwedischen Geheimdienst an Bord hatte.

Vor zwei Jahren kam durch die Aussage eines pensionierten Zollbeamten überraschend ans Licht, dass die zwischen Tallinn und Stockholm verkehrende „Estonia“ mehrmals zum Transport militärischer Schmuggelware genutzt worden war. Zuletzt mindestens zweimal in den beiden Wochen vor ihrem Untergang. Es soll sich um Fahrzeuge gehandelt haben, vollgepackt mit militärischer Kommunikationsausrüstung aus ehemals sowjetischen Beständen. Adressat der Ladung: der schwedische militärische Geheimdienst Must, der möglicherweise in Zusammenarbeit mit anderen westlichen Geheimdiensten handelte.

Dass Stockholm diese Transporte erst zehn Jahre später einräumte, als man durch Insider-Informationen dazu gezwungen war, rief auf der Stelle konspirative Theoretiker auf den Plan. War die „Estonia“ nicht wie behauptet durch eine Kombination aus Sturm, technischer Fehlkonstruktion und menschlichem Versagen untergegangen, sondern wegen eines Bombenanschlags im Zusammenhang mit den Militärtransporten?

Wie sich nun herausstellt, wurde das Schiffswrack offenbar in den ersten vier Tagen nach dem Untergang mit einer technisch aufwändigen Tauchausrüstung aufgesucht, womöglich wurde sogar in den Laderaum eingebrochen. Lars Ångström, Abgeordneter der schwedischen Grünen und Mitglied des parlamentarischen Verteidigungsausschusses, hat dem schwedischen Justizkanzler Göran Lambertz, einer oberen Revisionsbehörde für Regierung und Behörden, umfassende Materialien überlassen, aus denen sich seiner Meinung nach ergibt, dass zwischen der Unglücksnacht und dem 2. Oktober 1994 ein solcher Tauchgang stattgefunden hat. Der Abgeordnete verweist namentlich auf Militärangehörige als Zeugen, er beschreibt die Fundort entsprechender Informationen im geheimen Archiv des Must – die Informationen hat Ångström auch auf seiner Website www.larsangstrom.nu veröffentlicht.

Ein neue umfassende Untersuchungen zum Fall „Estonia“ hat Stockholm bisher verweigert und lediglich zeitlich und sachlich klar begrenzte Detailfragen eruieren lassen. Damit, so Ångströms, soll offenbar bewusst eine Analyse der geheimen Vorgänge rund um den Untergang der „Estonia“ verhindert werden. Aufgrund der neuen detaillierten Berichte sah sich Justizkanzler Lambertz jetzt veranlasst, neue Ermittlungen einzuleiten und die genannten Zeugen demnächst zu hören.

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