Das Meer unter der Erde

AUS BUGGINGEN JOCHEN SCHÖNMANN

In Buggingen, einem schmucken südbadischen Dörfchen unweit von Freiburg, steht Axel Mayer am Fuß eines Berges und schüttelt den Kopf. Die Regentropfen stechen die Haut wie dünne Nadeln, dazu Wind von der Seite, ein Sauwetter eigentlich, aber Mayer kommt dies gerade recht. Er ist Regionalgeschäftsführer des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und zuständig „für alles, was strahlt und stinkt“. Zwischen seinen Gummistiefeln kleckert ein Rinnsal den Hang hinunter, um ein paar Meter weiter in einer hässlich klaffenden Spalte im Boden zu verschwinden.

Der Berg ist ein Salzberg. Er ist weder bedeckt, noch ist der Unterboden abgedichtet, und was dort langsam ins Grundwasser sickert, ist hochkonzentrierte Salzlauge. „Und das“, schimpft der Umweltschützer, „ist noch gar nichts!“ Wütend stapft er zum Auto, knallt die Tür zu und fährt los. Es beginnt eine makabre Rundfahrt durch das größte Trinkwasserreservoir Europas. Schnell wird klar: Nicht nur in Buggingen – in großen Teilen Südbadens und im Elsass besteht höchste Alarmstufe für das Grundwasser.

Dabei könnte alles so schön sein: Wenn in Wittelsheim bei Mulhouse in den nächsten Wochen die letzte verbliebene Kali-Mine „Amélie“ zugeschüttet wird, gehen in dieser idyllischen Region 100 Jahre Industriegeschichte zu Ende. Was bleibt, ist ein Hauch von Bergwerksromantik über zerfallenen Förderanlagen, nostalgische Spaziergänge durch die kleinen Siedlungen der Arbeiterfamilien, deren Plätze und Straßenkreuzungen mit den rostigen Vermächtnissen ihrer einstigen Blütezeit geschmückt sind: alten Güterloren, riesigen Schwungrädern, martialischen Skulpturen schuftender Grubenarbeiter.

Aber die Situation ist alles andere als schön. Umweltschäden haben einen anderen Zeithorizont. Sie lassen sich nicht einfach zuschütten. Und wenn die kernigen Geschichten der Kumpel schon lange nicht mehr erzählt werden, belasten noch immer Millionen Tonnen Salz die Grundwasseradern des Oberrheingrabens. Das Ergebnis ist die größte Umweltverschmutzung in der Geschichte dieser geologisch sensiblen Region. Wie suchende Krakenarme schlängeln sich die kilometerlangen Salzfahnen in rund 100 Metern Tiefe das lockere Kiesbett entlang. Vielerorts ist die Trinkwassergewinnung gefährdet. In Breisach, etwa 20 Kilometer westlich von Freiburg, erreichen die Grundwasserwerte 50 Gramm Salz pro Liter – im Meer sind es 35. Die Brühe ist ungenießbar. Wie lange es dauern wird, bis der Oberrheingraben diese salzige Suppe wieder ausgelöffelt hat, weiß niemand.

Die Selbstverständlichkeit, mit der diese massive Verschmutzung jahrzehntelang stattfand, ist aus heutiger Sicht schwer zu begreifen. Die Herstellung von Kalisalz sicherte in der Vergangenheit dieser sonst eher abgeschiedenen Gegend im Dreiländereck Deutschland-Frankreich-Schweiz einen ungeheuren Reichtum. Bis zu 35.000 Menschen fanden in Spitzenzeiten Arbeit in der Salzindustrie. Jetzt sind die Minen erschöpft. Sie stehen verlassen in einem zerfurchten und geschundenen Gelände, gähnende Ruinen aus verwittertem Stahl mit zersplitterten Fensterscheiben. Das Kapital, das ist unschwer zu erkennen, ist weitergezogen. Die Region steht jetzt vor den Scherben eines rücksichtslosen Raubbaus an der Natur. Dabei wäre das alles gar nicht nötig gewesen – wie so oft.

Ein Salzgebirge entsteht

Bei der Gewinnung von Kalisalz, das in der Hauptsache zur Herstellung von Düngemitteln verwendet wird, entsteht Natriumchlorid – Speisesalz. Was andernorts mühselig abgebaut wird, hat man hier jahrzehntelang achtlos auf Haufen gekippt. Statt das Mineral zu verwerten, betrachtete man es als Abfall. Als die Haufen sich allmählich zu gewaltigen Bergen auftürmten, nannte man sie „Kalimandscharos“. Im elsässischen Kalibecken entstanden auf diese Weise wahre Salzgebirge. Kahl und zerklüftet wie atmosphärelose Mondlandschaften ragen sie wie ein Stein gewordener Anachronismus in die ansonsten üppig grüne Landschaft – sie bestehen zu 90 Prozent aus Salz. Wie viel Natriumchlorid von den riesigen Abraumhalden an jedem Regentag noch immer ins Grundwasser gespült wird, ist schwer zu schätzen.

Ein Beispiel, das den sorglosen Umgang mit der Natur am Oberrhein besonders gut illustriert, liegt auf der Fessenheimer Rheininsel, tief verborgen im Wald. Hier, wenige hundert Meter von der deutschen Grenze entfernt, befindet sich ein Ort, dessen Geschichte den engagierten Naturschützer Mayer immer wieder aufs Neue zum Kochen bringt. Im dichten Gestrüpp der kleinen Insel breitet sich eine weite Senke aus. Was sofort auffällt: Die Vegetation ist eine andere als die, die man sonst hier antrifft. „Salz liebende Pflanzen“, brummt Mayer nur. Dann, auf einer Lichtung, tauchen die Überreste eines riesigen Beckens auf. Der Beton ist zerbröckelt, von Salzlauge zerfressene Rohre verlieren sich im Wald. Wie zum Beweis tritt der 50-jährige gegen eine der Leitungen. Sofort bricht der morsche Stahl, heraus tropft eine faulige, rostbraune Brühe.

Hier, erzählt er mit bebender Stimme, hatte der mächtige französische Kali-Minenbetreiber „Mines de Potasse d’Alsace“ (MDPA) zwei riesige Lagerbecken angelegt. Der Grund: Früher hatte das Kaliunternehmen bis zu drei Millionen Tonnen Salzlauge jährlich in den Rhein eingeleitet. Das machte sich sogar im knapp 700 Kilometer entfernten Amsterdam bemerkbar: Dort zerfraß das Salz die Rohre der Kraftwerke. Deshalb wurde die Lauge auf der idyllischen Fessenheimer Rheininsel geparkt und richtete dort nun ungeheure Schäden an: Weil die MDPA es nicht für nötig hielt, die Becken abzudichten, versickerten Untersuchungen zufolge unglaubliche eine Million Tonnen Salz einfach so im Erdreich. Im Volksmund nannte man die Laugendeponie zynisch „die Lagune“. „Für all die schwerwiegenden Schäden dieser weiträumigen Kontamination des Grundwassers muss bislang niemand gerade stehen“, sagt Mayer bitter.

Bei der Aufsichtsbehörde für Minen- und Reaktorsicherheit in Straßburg sitzt der dortige Leiter Guillaume Wack hinter seinem Schreibtisch und verweist kühl auf eine Studie, „auf deren Ergebnisse wir seit Jahren warten“. Darin sollen die Verfehlungen und Schäden der Minenzeit untersucht werden. Wann das Papier zur Verfügung steht? Wack zuckt mit den Achseln. „Keine Ahnung.“ Es scheint, als finde er das Gespräch ziemlich unnötig. Wen solle man außerdem bestrafen, fragt er. „Die MDPA ist ein Staatsbetrieb. Am Ende zahlen sowieso die Steuerzahler“.

Wohl auch die Deutschen. Denn während auf französischer Seite die Untersuchungen eher schleppend vorangehen, sollen rechts des Rheins immer neue Gutachten klären, ob und wie eine Sanierung des sensiblen Trinkwasserspeichers möglich ist. Die Studien werden zum großen Teil mit öffentlichen Mitteln finanziert. Drei Millionen Euro wurden inzwischen für Probebohrungen, Erkundungen von Kiesschichten, Messungen von Wasserqualität und Analysen von Substratmorphologien ausgegeben. Zurzeit ist eine weitere Studie bewilligt. Das Resultat ist bei allem Aufwand dasselbe wie in Frankreich: Im Prinzip geschieht erst mal gar nichts.

Der Experte für Hydrogeologie im Regierungspräsidium Freiburg, Dr. Hans Plum, glaubt ohnehin, dass die Natur die Sache nur selbst lösen kann. Eine Entsalzung des Grundwassers, sagt er, ist nahezu unmöglich. Aber, immerhin, die Natur hat wirksame Selbstreinigungsmechanismen. Die dauern allerdings: „Bis das Trinkwasser in den betroffenen Regionen wieder genießbar ist, gehen Generationen ins Land“, bremst der Wissenschaftler die Erwartungen.

Das Salzgebirge verschwindet

Wieder zurück in Wittelsheim sieht man schon aus der Ferne die Bagger über die Kalimandscharos pflügen. „Immerhin werden nun allmählich die Salzberge saniert“, sagt Mayer und reicht das Fernglas weiter. Die Bagger legen eine dicke Erdschicht über die rissigen Poren der Abraumhalden. Aber auch hier gibt es Probleme. Zwar werden einige der Salzberge mit Lehm bedeckt und begrünt, doch ein anderer Teil wird einfach mit Hilfe gigantischer Wasserrohre weggespült – natürlich ins Grundwasser.

„Das macht aber nichts“ versichert Pierre Bois, Leiter der Behörde für industrielle Entwicklung und Umwelt in Straßburg. Deshalb seien spezielle Brunnen in die tiefen Kiesschichten gebohrt worden, die die Salzlauge wieder nach oben saugen und dann in den Rhein leiten sollen. Ob das funktioniert, ist aber noch nicht geklärt. Umweltschützer sind der Meinung, die Brunnen gehen nicht tief genug an die Wasser führende Schicht heran, mit der Folge, dass ein Großteil des Salzes im Kiesbett zurückbleibt.

Auf der badischen Seite beschäftigt die Verschmutzung des kostbaren Trinkwasserspeichers Oberrheingraben inzwischen die Gerichte. Der Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald klagt gegen die in Kassel ansässige K+S AG, deren Rechtsvorgänger das weiße Gold noch bis 1973 aus dem Boden kratzten. Der Konzern soll für die notwendigen Untersuchungen und für die entstandenen Schäden aufkommen, so die Hoffnung von Landrat Jochen Glaeser.

In Kassel allerdings sieht man sich nicht für die Verschmutzungen verantwortlich. K+S könne für die Verfehlungen seiner Rechtsvorgänger nicht in die Pflicht genommen werden, so das Argument. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat vor kurzem anders entschieden: Das Unternehmen sei als Gesamtrechtsnachfolger anzusehen, heißt es in dem Urteil, die Verpflichtung zu einer Sanierung sei also grundsätzlich möglich. Ob aber aus „grundsätzlich“ irgendwann „tatsächlich“ wird, dafür sind andere Gerichte zuständig. K+S-Unternehmenssprecher Ulrich Göbel machte die Hoffnung auf eine baldige Entscheidung jedenfalls schnell zunichte. Das Unternehmen sei bereit, durch alle Instanzen zu gehen, polterte er. Auch einen außergerichtlichen Vergleich schließt er aus: „Das wäre taktisch unklug.“ Es wird also noch dauern.

Axel Mayer kennt das. Die Natur hat keinen Anwalt. Nachdenklich schweift sein Blick über die fein ausgewaschenen Furchen der Kalimandscharos. 100 Jahre Kaliabbau haben hier eine ganz eigene Landschaft geformt. Ein von Menschen geschaffenes Gebirge, in seinem Anblick nicht ohne Reiz. „Die makabre Ästhetik der Umweltzerstörung“, sinniert Umweltschützer Mayer.