Holocaust-Industrie am Niederrhein

Sie spielten buchstäblich um ihr Leben. Zur Erbauung des SS-Lagerpersonals und des KZ-Arztes Josef Mengele gab ein Orchester in Ausschwitz-Birkenau Konzerte: Die Uraufführung von Stefan Heuckes Oper „Das Frauenorchester von Auschwitz“ fand jetzt am Theater in Mönchengladbach statt

VON FRIEDER REININGHAUS

Da ist Musik drin, mag sich der in Bochum lebende Komponist Stefan Heucke gedacht haben, als er sich von seinem Bruder Clemens das (umstrittene) Buch einer französischen Holocaust-Überlebenden zum Libretto eindampfen ließ. „Sursis pour l‘Orchestre“ (wörtlich: „Aufschub für das O.“) von Fania Fénelon (1908-1983) erschien 1976 in Frankreich (auf deutsch als „Das Mädchenorchester in Auschwitz“). Das Theater Krefeld-Mönchengladbach erteilte einen Arbeitsauftrag. Nun kam das Werk unter dem politisch korrekten Titel „Das Frauenorchester von Auschwitz“ auf die Bühne.

Distanz auf dem Vorhang

Die Betreiber des Projekts wussten, wie heikel dies war. Daher suchten sie den Kontakt zu Überlebenden, die das Libretto gegenlesen und absegnen könnten. Doch Anita Lasker-Wallfisch, einst Cellistin der Kapelle, verweigerte den Segen. Sie blieb auch bei einem Auftritt unmittelbar vor der Uraufführung im Opernhaus Rheydt der Auffassung, „dass jeder Versuch der Wiedergabe“ der komplexen Geschichte jenes Häftlingsorchesters „in begrenzter Form, wie es eine Oper ist, unbedingt fehlschlagen muss.“ Diese entschiedene Distanzierung wurde auf dem noch geschlossenen Vorhang eingeblendet, während ein vielstimmiger dunkler Streicherklang und der unheildräuende Bläser-Einsatz eine Filmmusik-Introduktion avisierten.

Zwar wurden die Bemühungen der Veranstalter am Ende von freundlichem Beifall quittiert. Mit dem Applaus mag das Publikum freilich in erster Linie das wackere Durchhalten der Akteure (und insbesondere die Gesangsleistungen von Kerstin Brix und Anne Gjevang) anerkannt und sich selbst belobigt haben – dafür, dass es sich drei Stunden dem „schweren Drandenken“ gewidmet hat. Doch die inzwischen 81-jährige Augenzeugin Lasker-Wallfisch sollte leider recht behalten: das Unternehmen ist in der Hauptsache fehlgeschlagen.

Die aus Fénelons Roman abgeleitete allzu schlichte Erzählweise des Librettos transportiert eine Geschichte, die vielleicht anzurühren vermag: Angefangen von der Ankunft der Freundinnen Fania und Berthe in einem Viehwagen, der Selektion am Lagereingang, der Zwangsentkleidung und dem Scheren der Haare sowie der Zuteilung der beiden jungen Frauen zum Musikcorps und dessen Einsatz zur Unterhaltung der SS-Wachmannschaften oder zur „Humanisierung“ der Massentötungen – bis zum unerklärlichen plötzlichen Tod der Dirigentin Alma Rosé (einer Nichte Gustav Mahlers), der rasch darauf erfolgenden Auflösung der Kapelle, der Ermordung ihrer jüdischen und des Abtransports ihrer nichtjüdischen Mitglieder nach Westen. Das alles wird in der Inszenierung des Intendanten Jens Pesel auf schamlos theaterrealistische Weise vorgeführt – und kann kaum anders als verharmlosend wirken. Zwar wird pädagogischer guter Wille erkennbar in ungelenken Dialog-Einschüben zur Notwendigkeit von „Erinnerungsarbeit“ – doch was hat das auf dem Theater zu suchen?

Es wäre eine Beleidigung für die Volkshochschule, würde man empfehlen, der Einfaltspinsel Pesel lieber dort arbeiten als weiterhin Theater diskreditieren. Der Komponist, der bislang vornehmlich durch protestantische Kirchenkompositionen hervortrat, arrangierte ein Geflecht von rund „40 Personen- und Symbolmotiven“. Ein Teil der Versatzstücke stammt von Schumann, Schubert, Bach, Johann Strauß oder Franz von Suppé. Die Zitate werden überwiegend vom Frauenorchester vorgeführt, dessen Angehörige in Häftlingskluft spielen. Die elenden Aufführungsverhältnisse hinterließen ihre Spuren und führten zu einem „verbeulten“ Ton. Freilich wird das Ungeheure der Rahmenbedingungen nicht so deutlich, dass es unter die Haut ginge. Heucke versuchte Spannung aufzubauen zwischen dieser Rekonstruktion des „Originaltons“ und einer musikalischen „Erzähl“-Spur, die von den im Hintergrund der Bühne postierten Niederrheinischen Symphonikern getragen wird. Ihr Formelvorrat speist sich aus den Opern Alban Bergs und versammelt auch mancherlei Operngesten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Stefan Heucke Musik wollte „einprägsam“ und „anschaulich“ sein. Doch der Kontrast der Elemente ist so miserabel gemacht wie die Gelenkstellen – und insbesondere das angeblich „Eigene“. Da verhält es sich wie beim aktuellen Fleischskandal: Das Verfallsdatum ist längst abgelaufen, aber die Ware wird dennoch als frisch verkauft. Am problematischsten aber bleibt diese durchaus als Bekenntniswerk konzipierte Literaturoper und ihre Inszenierung dort, wo sie auf „Realitätsbezug“ insistiert – z.B. mit dem nach und nach sich auftürmenden Kleiderberg oder der Inbetriebnahme eines sich mit Theaternebel füllenden Glasrohrs. Es will die Zufuhr von Zyklon B in die Gaskammer „darstellen“(!).

Tiefer geht es kaum noch

Die Schamfrist ist vorbei. Zwar ist die im späten 20. Jahrhundert heißgelaufene Konjunktur der Holocaust-Industrie derzeit etwas abgekühlt (das mag aktuelle politische Gründe haben). Das Hitler-Musical „Producers“ von Mel Brooks ist in London abgespielt und Nicholas Maws Oper „Sophie‘s Choice“ erwies sich in Berlin als unhaltbar. Doch nach der Erfüllung der Kinos und großen Theater mit Erinnerungen an das Warschauer Ghetto oder das Entkommen aus der Vernichtungs-Maschinerie der deutschen Dienststellen ist der Wille zur musiktheatralen Nutzung der Nazi-Verbrechen an der Peripherie des deutschen Musiktheaters angekommen.

Dort wird die Vor- und Umsicht, mit der z.B. Peter Ruzickas „Celan“ und so manche glücklicherweise bilderlose Hörfunk-Produktion ins Werk gesetzt wurden, für Allotria erachtet. Die hemdsärmeligen Macher wissen: Es gibt in diesem Land keine Instanz, die einer gut gemeinten Unsäglichkeit wie dem „Frauenorchester“ das Handwerk legt. Deshalb bleibt dennoch zu erwägen, ob Theater, die sich auf dergestalt unappetitliche Weise füllen, „geschlossen werden sollten – aus ästhetischen Gründen“ (Bertolt Brecht).

20:00 Uhr, Theater MönchengladbachInfos: 02166-6151100