„Eine europäische Seuche“

UNGARN Der Erfolg von Rechtspopulisten ist nicht zuletzt dem Versagen der Opposition geschuldet. Den Rechten Einhalt zu gebieten, gehört aber auch zu den Aufgaben der EU – sagt die ungarische Philosophin Ágnes Heller

■ wurde 1929 in Budapest geboren. Die ungarische Philosophin jüdischer Herkunft überlebte den Holocaust und studierte nach dem Krieg zunächst Physik und Chemie, wechselte jedoch schnell das Fach. Promovierte bei dem Philosophen Georg Lukács; emigrierte aufgrund politischer (antisemitisch grundierter) Repressionen Mitte der Siebziger ins Ausland. Sie erhielt Ehrungen, darunter die Goethe-Medaille und den Carl-von-Ossietzky-Preis. Gilt als prominente Kritikerin der Politik Viktor Orbáns.

VON JAN FEDDERSEN

taz.lab: Frau Heller, kann Ihr Land, Ungarn, sich von der Regierung Viktor Orbáns, vom „Orbanismus“, politisch und kulturell wieder erholen?

Ágnes Heller: Es geht momentan nicht um die historische Frage, ob wir uns vom Orbanismus, wie Sie sagen, erholen können. Die Zeit aber, die es für eine „Erholung“ braucht, kann zwei Jahrzehnte dauern. Man kann sich nach den Wahlen am 6. April mindestens einen neuen Anfang vorstellen – aber falls Fidesz …

die Partei von Ministerpräsident Orbán …

… die Wahl gewinnt, was wahrscheinlich ist, ist Ungarn in der nächsten Zukunft für die Demokratie verloren.

Das eine Lager agiert offenbar erfolgreich – das setzt aber voraus, dass die Opposition versagt. Liegt es nicht auch an der postkommunistischen Linken – und am Sozialismus bis 1989 selbst –, dass sich eine hegemoniale Konzeption wie die von Viktor Orbán und anderer Populisten in Europa durchsetzen kann?

Die demokratischen Regierungen Ungarns haben unsere Geschichte vergessen, sie haben ihr Volk überhaupt nicht gekannt. Sie glaubten, wenn mit den Institutionen der Freiheit alles in Ordnung ist, dann steht die Demokratie auf einem sicheren Boden. Wir zahlen jetzt alle für dieses Missverständnis.

Was wünschen Sie sich von „Europa“? Hilft die EU durch Brüssel genug, um die minderheitenfeindliche Atmosphäre etwa in Ungarn zu ändern?

Brüssel sollte dafür sorgen, dass alle Regierungen der zur Union gehörenden Länder die Werte und Normen der Union (nicht nur dem Buchstaben, auch dem Geiste nach) verkörpern. Man sollte auch Sanktionen einführen, wenn diese Normen verletzt werden. Sofern das nicht passiert, kann der „Orbanismus“ eine europäische Seuche werden.

Wie beurteilen Sie die Lage in der Ukraine – und was könnte getan werden, um den Demokratisierungsprozess in Kiew zu befördern?

Man soll die russische Intervention und die Veränderung der Staatsgrenzen verhindern, doch soll man der russischen Bevölkerung gleiche Rechte garantieren – zum Beispiel auch den öffentlichen Gebrauch ihrer Muttersprache. Die heutige ukrainische Regierung ist nicht legitim.

Aber Wiktor Janukowitsch ist kein Präsident mehr?

Doch, er wurde gewählt. Man braucht freie Wahlen, um die neue Regierung legitimeren zu können. Wir können also noch nicht viel sagen – denn wir kennen die Ergebnisse einer solchen freien Wahl noch nicht.

Jan Feddersen, Jahrgang 1957, ist taz-Redakteur für besondere Aufgaben und kuratiert seit 2009 das taz.lab. Mit taz-Redakteurin Doris Akrap moderierte er auf dem taz-Medienkongress 2011 ein Panel mit Ágnes Heller, dem sie als taz.lab-Gast aus Budapest beiwohnte