GEHT’S NOCH?
: Twitter-Sperre

Nie hat der türkische Staat Kosten und Mühe gescheut, sich zu blamieren. Aber was will Erdogan erreichen?

Vor 25 Jahren wurde mein Vater bei Besuchen in der Türkei gefragt: „Wie sieht die Türkei von Europa betrachtet aus?“ Seine Antwort: „So wie Pakistan von hier betrachtet aussieht.“ Das kam meist nicht so gut an. Mit einem Land wie Pakistan wollten die Leute die Türkei nicht gleichgesetzt wissen.

Dabei ließ sich jahrzehntelang – von Nazim Hikmet über Ruhi Su bis zu Yilmaz Güney – der Rang türkischer Künstler an der Zahl der Jahre ablesen, die sie eingekerkert waren. Blamagen hat der türkische Staat nie gescheut. Vor zehn Jahren wurden Elif Safak, Orhan Pamuk und Hrant Dink wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ angeklagt. Nachdem Kader der Gülen-Bewegung mit Billigung der AKP die Justiz übernommen hatten, ging man gegen Journalisten wie Ahmet Sik oder Mustafa Balbay vor.

Ihren 154. Platz auf der Rangliste der Meinungsfreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ – kurz hinter Russland, knapp vor Pakistan – hatte sich die Türkei schon vor der Twitter-Sperre verdient. Nun sind die türkischen User darin geübt, Internetsperren zu umgehen. Und auch der Regierung dürfte es dämmern, dass sie Twitter nicht vollständig bändigen kann. Doch ihr dürfte es um den größeren Rest der türkischen Gesellschaft gehen. So verbreitet Twitter in der Türkei auch ist, der größere Teil der Menschen hat die kompromittierenden Tonbandmitschnitte nie gehört, weil diese außerhalb kleiner oppositioneller Sender nicht im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Vermutlich will Erdogan vor der Kommunalwahl am 30. März den Informationsfluss drosseln, wird doch erwartet, dass sich die mutmaßlichen Urheber der Tonbandveröffentlichungen, die Gülen-Leute, noch ein Schmankerl aufgehoben haben. Vielleicht will er neue Proteste provozieren, um seine Anhänger um sich zu scharen. Manche von ihnen sind durch die Korruptionsvorwürfe irritiert, ob sie einen Twitter-Account haben oder nicht.

Die meisten Twitter-User gibt es übrigens in China. China ist auch das einzige Land, in dem Twitter gesperrt ist. In Pakistan ist es erlaubt. DENIZ YÜCEL