Allein im zuckenden Körper

Alain Platel und Les Ballets C. de la B. erforschen in Bochum mit „VSPRS“ die Verhaltens- und Bewegungsmuster von Menschen, die wegen pathologischer Defekte in einer isolierten Welt leben

VON REGINE MÜLLER

Ein Berg aus Stofffetzen wie ein verbeulter Flokati mit einem Unterstand für die Kapelle und eine Gasse für die Auftritte: mehr Bühne braucht der Choreograf und Regisseur Alain Platel aus Gent nicht, eine Welt zu schaffen, die mehr ist als ein bloßer Kunstraum. Nachdem Platel bereits 2003 mit seinem furios respektlosen und dabei innigen Mozart-Spiel „Wolf“ bei der Triennale auf sich aufmerksam machte, setzt seine Recherche diesmal bei Claudio Monteverdi an.

Die „Vespro della Beata Virgine“, kurz „Marienvesper“ von 1610 ist nicht nur ein Gipfelwerk sakraler Musik, sie war auch die künstlerische Visitenkarte des frühbarocken Komponisten, der in der Vesper mit dem musikalischen Epochenwechsel spielte und uralte Traditionen souverän mit der damaligen Avantgarde verquickte. Die neun Musiker in der Bochumer Jahrhunderthalle entstammen denkbar entfernt liegenden Stil-Kontinenten: vier Barockmusiker mit Originalinstrumenten gesellen sich zu einem Jazztrio und zwei Zigeunermusikern, eine Sängerin (Maribeth Diggle, Sopran) singt Monteverdis Melismen und Choralzeilen nahezu unverändert. Die Kapelle jedoch umkreist Monteverdi in allen möglichen Dialekten zwischen Orient, Balkan, Jazz und Barock. Die geschieht nicht in sorgloser Crossover-Laune, sondern höchst konzentriert, reduziert, erfüllt von vibrierender Spannung und einer fremd anmutenden Form von Andacht.

Die Tänzer indes kämpfen auf der Bühne einen verzweifelten Lebenskampf aussichtsloser Verheißung. Immer einsam, doch auch in überraschenden Formationen, jeder beladen mit der ureigensten Deformation und doch Teil eines zuckenden Kollektivs. Die Tänzer, oder besser die in allen Disziplinen mit akrobatischem Aberwitz begabten Darsteller sind in diesem tief traurigem Spiel Geworfene geheimer (innerer?) Kräfte. Sie zappeln, zittern, stottern, lösen sich, finden Trost, um sich wieder dem Krampf, dem Schmerz zu ergeben. Nie sah man deutlicher, dass das Schöne nur des Schrecklichen Anfang ist - und umgekehrt. Aus einer tänzerischen Arabeske wird unversehens ein Krampfzustand, aus pathologischem Bewegungszwang ein zärtlicher Tanzschritt, aus der Pirouette ein Unfall verdrehter Gliedmaßen.

So hetzen sie gejagt über die Bühne, dann wieder scheinen sie sich hämmernd in den Boden zu bohren, verwickeln sich in widerspenstige Kleider, zittern wie Sisyphos den Berg hinauf, um bewusstlos wieder hinab zu gleiten, stützen sich gegenseitig, schleppen einander und stoßen sich voneinander ab. Sie suchen Erlösung und Trost und finden beides nur einen Moment, bevor die Tortur wieder einsetzt. Wie unter Starkstrom kommt es zu heftigen Steigerungen, Ausrastern und Entladungen.

Das Erbärmlichste und Kreatürlichste stellt Platel mit seinem wunderbaren Ensemble „Les Balletts C. de la B.“ auf die Bühne, ungefiltert und doch sublimiert. Ein Gang auf dünnem Eis, denn das furiose Ballett der psychischen und physischen Verschraubungen im Dialog mit christlichen Motiven könnte als medizinische Fallstudie, als zynische Ausstellung von Krankheit missverstanden werden. Doch dazu kommt es nicht, das Geschehen auf der Bühne verstört, macht ungeheuer traurig, bewegt und tröstet dennoch, da über dem Abend eine geheimnisvolle, ekstatische Spiritualität waltet. Ein exemplarischer Fall von Katharsis. Und ein großer Abend.

20:00 Uhr, Jahrhunderthalle, BochumInfos: 0700-200234 56