Die mobile Erniedrigung

Vom hohen Preis des Mitleids mit gebeutelten und missgestalteten Geschöpfen

Der Haltewunsch, eine simple Fahrtunterbrechung, wird zum wagehalsigen Unternehmen

Ein Aufenthalt am Rand des Binnengewässers, welches wir Ostsee zu nennen uns angewöhnt haben, bringt mit sich, dass wir nach einigen Tagen entspannten Herumliegens und vorsichtigen Wellenplanschens aufrichtige Lust verspüren, unseren Aktionsradius zu vervielfachen. Und da wir einer privaten Motorisierung ablehnend gegenüberstehen, fällt unsere Wahl auf den treuesten Gefährten seit der Erfindung des Rades. Das Rad. Genauer: das Fahrrad.

Doch Bedeutung und Funktion dieses Fortbewegungsmittels, so glauben wir, werden an den Gestaden des kleinen Meeres nicht zur Gänze durchschaut. Schon ein schüchterner Blick aus den Augenwinkeln genügt, um die traurige Versammlung, die vor sogenannten Fahrradverleihen angekettet oder angeschlossen ihr kümmerliches Dasein fristet, in ihrer ganzen Tragik zu erfassen. Offensichtlich reicht für die Betreiber hin, dass diverse Metallstangen unterschiedlichster Korrosionsstadien gerade oder gebogen miteinander verbunden und zwei luftbereifte Räder vollzählig vorhanden sind, um die grässlichen Fehlschöpfungen aus dem Sonderangebot der unser eigentlich genug geplagtes Land überwuchernden Supermarktmetastasen zur edlen Familie der Fahrräder zu rechnen. Welch ein Irrtum. Denn das vorrangig verbreitete Design folgt einer Idee, die hochgradig Sehgeschädigte von dreihundert Jahre alten Hollandrädern haben dürften.

Am Ende ist es Mitleid. Nur aus Mitleid lassen wir uns dazu bewegen, diesen gebeutelten und missgestalteten Geschöpfen etwas Auslauf zu verschaffen. Aber um welchen Preis?

Die Bemühungen um einen kontinuierlichen Bewegungsablauf stoßen auf schwer überwindbare Hindernisse: Die Lenker-Sattel-Kombination, soweit vorhanden, gibt selbst das anmutige Wesen schöner Frauen absoluter Lächerlichkeit preis. Die Manövrierfähigkeit des nach Jägerzaunmotiven gestalteten Lenkers existiert nur in Ansätzen, was eine Kongruenz von eigener Richtungsintention und realem Fahrtverlauf nahezu verunmöglicht. Hinzu tritt ein ruinöser Kräftehaushalt, der schon bald vor der gebieterischen Schwerkraft kapituliert, weil sich der Sattel nicht verstellen lässt oder derselbe immer wieder in die Kleinkindposition rutscht. Der Haltewunsch, eine simple Fahrtunterbrechung, wird zum wagehalsigen Unternehmen, betätigen wir das erste Mal den uns von richtigen Rädern als Bremse vertrauten Mechanismus. Entweder geschieht nichts, was einem konsequenten Halt Ehre antäte, oder die Einheit von Fahrer und Rad wird auf entwürdigende Weise aufgehoben. Dann die Schaltung. Sie ist sicher für Kinder gedacht, die gern spielen. In ihrer Eigenschaft als Milderer des Unglücks ist sie ungeeignet; Steigungen von mehr als 0,1 Promille werden zur Bewährungsprobe für zivilisiertes Verhalten. Nahrungsbeschaffung (die Beförderung kleiner Lasten aus dem Einzelhandel), aber auch die Förderung der Verdauung – beides Grund- und Eckpfeiler unseres Daseins! – stehen daher im krassen Widerspruch zu dieser mobilen Erniedrigung. Auch in Fragen der Sicherheit setzen die Verleiher auf unkonventionelle Lösungen. Die Schlösser sind mühelos mit einem nassen Strohhalm zu knacken. Doch Diebe kämen mit halber Schrittgeschwindigkeit bekanntlich nicht weit. Eine angemessene und würdevolle Flucht aber verhindert das augen- und ohrenbetäubende Klappern sämtlicher Metallteile, die vom fernöstlichen Hersteller leichtsinnigerweise durch Schraubverbindungen fixiert wurden. Nur wann? Und vielleicht mit den Zähnen?

Zu allem Überfluss vertreten viele lokale Entscheidungsträger die Auffassung, die schönsten Strandpromenaden für den Radverkehr sperren zu müssen, dafür aber die mit raubtierfallentiefen Schlaglöchern geschmückten Kopfsteinpflastermäanderpisten freizugeben. Im Verein mit den oben angeführten Fahreigenschaften der ausgeliehenen Räder und suizidal veranlagten Skinheads, die ihre Jungfernautofahrt besoffen und mit verbundenen Augen absolvieren, verdirbt der von allen Seiten pustende Gegenwind den letzten Rest aufrichtiger Reisefreude. Die Süße des Augenblicks im sanften Dahingleiten scheint diesem gestraften Fortbewegungsmittel also generell wesensfremd zu sein. Und wir sind jetzt der festen Überzeugung, dass Radfahren da oben politisch nicht gewollt ist. Verzweifelt kehren wir zu den finsteren Schließanstalten zurück und werden nach 20 Uhr per Keilschrift auf Toilettenpapier dazu angehalten, uns des Fahrradschlossschlüssels doch bitte durch den Briefschlitz zu entledigen.

Besser wäre, dem gewissenlosen Betreiber aufzulauern und sie ihm alle ins Maul zu stopfen. Vielleicht hilft das. MICHAEL RUDOLF