Schweigen, gucken und entdecken

Der finnische Didaktiker Matti Meri plädiert für einen radikal individualisierten Unterricht an den Schulen

Zehn Journalisten und drei Lehrer schauen gebannt auf ihren Referenten. Ist er ein Magier? Ein Aufschneider? Oder doch ein stinknormaler Pauker, der auch nur mit Wasser kocht? Matti Meri, Professor für Didaktik aus Helsinki, Finnland, der immer wieder nach Mitteleuropa kommt, um zu zeigen, dass Schüler nicht Schüler, sondern Forscher sein sollten.

Der Mann lädt zu einem Experiment ein. Man möge schweigen und gucken. Im Raum umhersehen, sich die anderen Seminarteilnehmer betrachten. Nichts sagen. „Und jetzt stehen Sie bitte auf, gehen herum und suchen sich einen Partner. Nur mit den Augen. Ohne Worte.“ Die Seminaristen wandern umher. Betrachten sich aufmerksam. Schauen sich zum ersten Mal in die Augen. Wissen nicht mehr, ob das eine Flirt- oder eine Didaktiksession ist. Ein konzentrierter Moment. Ein persönlicher Augenblick. Eine Pause.

„Wir sollten jeden Einzelnen wahrnehmen“, sagt Matti Meri, und er meint damit jeden einzelnen Schüler. Das ist eine Selbstverständlichkeit, würden viele Lehrer sagen. Doch die anwesenden Bildungsjournalisten wissen: Individuelles Lernen ist keine Selbstverständlichkeit, obwohl jeder davon spricht.

Das haben sie schließlich gerade selbst erlebt. Als Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einem Seminar der Bundeszentrale für Politische Bildung, in dem sie eine Bilanz nach fünf Jahren Pisa ziehen wollen. Im Stunden-Takt versuchen Referenten seit eineinhalb Tagen Wissen in sie hineinzustopfen. Ein Dozent zum Beispiel jagt 60 Power-Point-Dias in einer Stunde durch ihre Köpfe hindurch.

In deutschen Klassenzimmern ist es nicht ganz so schlimm. Aber ähnlich. Immer noch herrscht dort der 45-Minuten-Takt vor. Allzu oft haben Schüler in sechs Schulstunden sechs Fächer. Vorgetragen von Lehrern, die mit der Haltung unterrichten, dass ihr Fach das allerwichtigste der Welt sei. Und die nur ein Ziel haben: Der Stoff muss durch. Folgt dem Lehrplan, ohne Denkpause.

Matti Meri stellt den Schüler ins Zentrum. Er nimmt jeden Einzelnen wahr. Er plädiert dafür, die Dinge, die behandelt werden, zur Sache der Schüler zu machen: „Es ist wichtig zu sehen, welche persönliche Bedeutung die Dinge für den einzelnen Schüler haben.“

Das geht nur in einem radikal individualisierenden Unterricht. Die Präsentation des Unterrichtsthemas, frontal von vorne in die Klasse hinein, gehört zu den ganz wenigen „Alle hören auf einen“-Situationen. Stattdessen sollte die Klasse immer wieder in Gruppen geteilt werden, je nach Thema und Interessen. Der finnische Didaktiker lässt keinen Zweifel daran, wie weit diese Individualisierung gehen kann: „Es gibt Schüler, die können praktisch nur allein für sich lernen.“

Die Lehrerin sagt: Wir nehmen heute das Messen durch. Ein Schüler kramt vier Stifte aus seinem Mäppchen hervor und beginnt sie konzentriert nebeneinander zu legen. Er misst die Länge des Tisches. Die Lehrerin ermahnt ihn, erst mal zuzuhören. Und die Sachen wegzuräumen. Beobachtet haben diese Situation die Unterrichtskameras der Kollegen von Matti Meri. Dabei dokumentierten sie noch etwas: Der Schüler räumt die Sachen weg, er setzt sich gerade hin, er konzentriert sich auf die Lehrerin. Aber sein Schwung, seine Neugier, sein eigener Antrieb kehrten für den Rest der Stunde nicht zurück.

Was Meri mit dieser Szene vorführt, ist eines der Relikte der industriellen Schule. Der Lehrplan ist das Fließband, das an den Schülern vorbeigefahren wird. Darauf liegen die Unterrichtsgegenstände, welche die Schüler vom Band nehmen und in ihren Kopf einbauen sollen.

Meri aber will die Schule der Wissensgesellschaft. In ihr gibt es so unendlich viele Informationen, dass Wissen erst entsteht, wenn die Schüler es in einen, am besten ihren eigenen Kontext stellen. Im Grunde nehmen sie dabei nicht Wissen auf. Sie stellen Neues her. Lehrer sollten nicht gleich alles erklären, fordert Meri, sondern darauf achten, was die Schüler beobachten, was sie fragen, wie sie über die Dinge sprechen, kurz: Wie sie die Welt betrachten.

Das passt, logisch, nicht in den Unterrichtsalltag eines 80-Millionen-Volkes, das mit 2.000 Lehrplänen gesegnet ist. Dieser Widerspruch tut sich bei dem einen oder anderen auf, der Meris Seminarvortrag in der Potsdamer Montessori-Schule gehört hat. Die Journalisten halten einen Moment inne. Dann fahren sie fort mit ihrer nächsten Sitzung. Zwei Diskutanten, ein Moderator, kein Redebeitrag unter fünf Minuten. Es fließt viel Schweiß. Man streitet sich. Im Hintergrund raunt eine zufällig anwesende Lehrerin: Worum geht’s hier eigentlich? ROBERT CÄSAR