Zweite Krawallnacht in Budapest

Zahlreiche Festnahmen bei Demonstration gegen Ungarns Regierungschef. Die Opposition ruft für das kommende Wochenende zu einer Massenkundgebung auf

WIEN taz ■ Auch in der Nacht zu gestern tobten in Ungarns Hauptstadt Budapest Straßenschlachten mit der Polizei. Ausgelöst wurden die Demonstrationen durch eine am Wochenende bekannt gewordene Rede von Regierungschef Ferenc Gyurcsánys vor Parteifreunden, in der er zugab, die Wähler systematisch über den Zustand der Wirtschaft belogen zu haben.

Lange Zeit blieben die Proteste friedlich. Bald nach Mitternacht fing die Randale erneut an. Diesmal waren es um die 200 Demonstranten, die durch das Zentrum von Pest zogen, Mülleimer umstießen und Parolen skandierten. Gegen eine grölende Gruppe, die in das Büro der regierenden sozialdemokratischen MZSP einzudringen versuchte, ging die Anti-Aufruhr-Einheit mit Tränengas vor. Ihre rechtsextreme Gesinnung manifestierten die Randalierer mit der rot-weißen Árpád-Fahne, die an die ungarischen Nazis erinnert. Budapests Polizeipräsident erklärte kurz darau, die Chaoten seien unter Kontrolle gebracht worden. Gegen 60 seien Verfahren eingeleitet worden.

Es sind aber nicht nur die extremistischen Elemente, die die Krise anheizen. Die oppositionelle rechtspopulistische Partei Fidesz nutzt die Gelegenheit, um die Machtfrage zu stellen. Parteichef Viktor Orbán rief für kommenden Samstag zu einer Massenkundgebung auf dem Budapester Heldenplatz auf. Millionen sollen dort gegen Premier Ferenc Gyurcsány protestieren.

Ungeachtet der eigenen unerfüllbaren Wahlversprechen stellt sich Fidesz als Opfer der Lügen Gyurcsánys dar. Sonst hätte man die Wahlen im April nicht verloren. Und Ándrás Tácacs vom Ungarischen Nationalen Komitee versucht eine Dynamik wie 2004 in der Ukraine zu erzeugen. Bei einem Massenprotest vor dem Parlament rief er am Dienstag dazu auf, dort zu bleiben.

György Ekrem Kemal, Präsident des Verbandes vom Kommunismus Verfolgter, wollte die Menge bei einem Marsch zum Rundfunkgebäude anführen und die öffentlich-rechtlichen TV-Kanäle zwingen, eine Petition zu verlesen. Anders als am Montag war das Gebäude von der Polizei hermetisch abgeriegelt.

Neben der Selbstentblößung Gyurcsánys dürfte das Sparpaket, das am 1. September in Kraft trat, für die Unruhen verantwortlich sein. Die Kommunalwahlen am 1. Oktober bieten aber eine Gelegenheit, Dampf abzulassen. Für den am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen lehrende Ökonom János Matyas Kovács ist den handelnden Personen die Sache entglitten. Im ORF kritisierte er auch Staatschef László Solyom. „Unglücklicherweise hat er den Premier angegriffen und von einem moralischen Skandal gesprochen, anstatt während der Unruhen noch einmal ins Fernsehen zu gehen und die Gewalt zu verurteilen.“ Manchen sei es gar nicht unrecht, dass rechtsextreme Hooligans die Proteste eskalieren ließen. „Nun ist der Geist aus der Flasche, und er ist schwer wieder hineinzubekommen.“ RALF LEONHARD

taz zwei SEITE 14