Brennpunkte des Alltags

DOKU-THEATER Das Göttinger Ensemble Werkgruppe 2 widmet sich dem Arbeitsalltag osteuropäischer Pflegekräfte. Die szenische Untersuchung wird statt in Göttingen am Staatstheater Braunschweig gezeigt

Haushaltshilfen aus Ost-Europa sprachen über den oft entwürdigenden Arbeitsalltag

Selten hat das freie Theaterensemble Werkgruppe 2 so unwiderlegbar beweisen können, warum es vernünftig ist, so nachhaltig auf der Interpretation der eigenen Recherchen durch Schauspieler zu beharren. „Polnische Perlen“, die jüngste szenische Untersuchung an den Brennpunkten des Alltags, wäre als einfache Dokumentation mit „Betroffenen“ auf der Bühne schlicht undenkbar. Es ist gerade die Art der Darstellung, die das Stück zum Ereignis macht. Das Ergebnis ist zu sehen an der neuen Heimstatt der Gruppe, am Staatstheater Braunschweig.

Hier wird die Werkgruppe 2 – das freie Göttinger Theater-Kollektiv um Regisseurin Julia Roesler, Dramaturgin Silke Merzhäuser und die Musikerin Insa Rudolph – für eine Weile heimisch werden, nach Jahren am Deutschen Theater in Göttingen.

Haushaltshilfen aus Ost-Europa haben für diesen Abend Auskunft gegeben über den immer sehr harten und oft entwürdigenden Arbeitsalltag in deutschen Haushalten – ohne sie, die zu Dumpingpreisen arbeitenden „Perlen“ aus Polen, der Slowakei oder Rumänien, könnten viele Baby-Boomer die eigenen Eltern und Großeltern nicht pflegen lassen. Fünfzehn Pflegerinnen und Pfleger blätterten für die Recherche der Werkgruppe 2 den eigenen Alltag auf, verständlicherweise anonym, weil viel von dieser Arbeit schwarz und illegal geleistet wird – und trotz allem Elend und Jammer überwältigt die Freundlichkeit dieser Zeugenaussagen, die unbeirrbare Herzensgüte noch in Einsamkeit und Verzweiflung.

Dass die szenische Recherche an diesen Punkt gelangt, ist dem Ensemble zuzuschreiben – und einigen klaren Regie-Entscheidungen. Vier Musikerinnen in Rollstühlen sind die Patientinnen, zwischen Vorhängen wie in Krankenzimmern und auf vielen Teppichen sprechen sie nicht mehr – Bühnenbildnerin Julia Schiller hat einen stummen Raum entworfen. Doch die Instrumente der Alten im Rollstuhl geben den Takt vor fürs Personal – bis zum Teppichklopfen im Rhythmus des Streichquartetts. Strikt und streng konturiert die Musik den Pflegealltag und die „Perlen“ nähern sich den Pflegefällen schon deshalb vorsichtig und sensibel, weil Regisseurin Roesler den Darstellerinnen und Darstellern die jeweils gebrochenen Dialekte der Zeugenaussagen belässt.

So demonstrieren sie mit jedem Wort auch die eigene Entwurzelung: Sie sprechen über Braunschweig und mit dem Publikum im Saal, aber immer auch vom fernen Zuhause, wo Familien warten und wo bei den Gegebenheiten vor Ort ein auskömmliches Überleben einfach nicht möglich ist. Auch vom Wohlstandsgefälle im reichen Europa erzählt dieser Abend. Vielleicht verstummt sogar der eine oder die andere vor diesen Geschichten – oder besser: widerspricht, wenn mal wieder beiläufig von „Sozialschmarotzern“ die Rede ist. Die Frauen und Männer, die hier zu Wort kommen, erzählen etwas anderes. Franziska Roloff und Fanny Staffa von der Werkgruppe 2 sowie Nientje Schwabe, David Kosel, Philipp Grimm und Mattias Schamberger vom Braunschweiger Ensemble geben dem Abend Rhythmus. Er kreist um einen Alltag, der kaum Pausen kennt.  MICHAEL LAAGES

„Polnische Perlen“: nächste Vorstellungen am 25. und 27. März, Staatstheater Braunschweig