Unbequeme Nachbarschaft

PATRIARCHATSKRITIK Eine Ausstellung über die Outsider der Kunst im Frankfurter Schirn klärt, worauf ihr Ausschluss beruht

Irgendetwas zwischen Cy Twombly, Eva Hesse und Niki Saint Phalle ist in den Skulpturen von Judith Scott

VON ULF ERDMANN ZIEGLER

Die Wiederentdeckung der Kunst der „Outsider“ findet seit vierzig Jahren statt, ist aber in Deutschland erst seit Mitte der 90er etabliert. Martina Weinhart, Kuratorin an der Schirn, hat das Kunstetikett „Outsider“ aufgegriffen und entzaubert. Sie erblickt die Kunst der Außenseiter überall dort, wo sie in erster Linie therapeutischen Zwecken dient, von den „Irren“ der frühen aufgeklärten Psychiatrie bis zu den manisch produktiven Sonderlingen von heute.

Ihre älteste Quelle ist Karl Junker, Jahrgang 1850, der – Ausnahme unter Außenseitern – ein Handwerk lernte und Kunst studierte, um dann, mit 39 Jahren, in Lemgo ein Haus zu errichten, das er in den nächsten zwanzig Jahren in die totale Skulptur überführte, Schnitzwerk als All-over. Erbe muss man sein, um der Anstalt zu entkommen!

Die meisten Schizophrenen aber verschwanden in der Psychiatrie, die es sich schließlich selbst zur Aufgabe machte, den künstlerischen Patienten zu entdecken, zu fördern, zu beschreiben und die Werke zu bewahren. Der Zugang zur künstlerischen Produktion ist für Menschen in Bedrängnis schwer zu haben: Mutter, Schwester, Bruder, Arzt und Kunsttherapeut sind, mit sehr viel Glück, die Brückenbauer. Neuerdings auch der Galerist.

Beginnt dann die künstlerische Tätigkeit, findet sie kein Ende mehr. Der allergrößte Unterschied zur modernen Kunst, auch wenn diese sich an „brut“ berauschte, ist das Fehlen von Freiraum oder Aussparung. Das mit Bildern, Schriften, Einträgen und Zitaten gepflasterte Atelier des Außenseiters ins Museale zu überführen, erfordert einen besonderen Kunstgriff. In der Schirn hat man eine Folge von 13 Kammern entworfen, die teils Bühnen oder Schreinen gleichen und jede Einheit in eine spezifische Farbe getaucht, Blautöne zum Beispiel in unbequemer Nachbarschaft. So wird man eingewoben in die künstlerischen Sprachen, ihre Exzentrik, ihren Zwang, ihre Poesie.

Die Qualität der Ausstellung wurzelt in einem Paradox: indem sie einerseits die Kunst als Kunst rettet und andererseits die spezifischen Pathologien herausschält. Dafür hat man einen biografischen Korridor eingezogen, der mit Texten und Filmen klarmacht, wie prekär die Situation dieser Künstler(innen) war/ist und mit welchen Dämonen sie zu kämpfen haben. Den größten Eindruck hinterlassen die schwebend gehängten Skulpturen von Judith Scott – Wollfäden, um Gewerbemüll gewickelt –, irgendetwas zwischen Cy Twombly, Eva Hesse und Niki Saint Phalle, um nicht zu sagen: neu. Scott, 1943 in Ohio mit Downsyndrom geboren, verbrachte mehr als drei Jahrzehnte in Anstalten, bevor ihre Schwester sie nach Kalifornien rettete und Judith in einer beschützenden Werkstätte von einer Künstlerin – Sylvia Seventy – den Zugang zur Skulptur gewiesen bekam. Was danach kam, grenzt an ein Wunder.

Andererseits ist eine Behinderung keine Psychose, und viele der „Mongoloiden“ leben in einer glücklichen Welt, wenn man sie lässt, wenn man sie liebt. Das gilt auch für die Frankfurterin Birgit Ziegert, die das Treppenhaus mit fantastischen Tierfiguren dekoriert hat, etwas zwischen Janosch und Matisse, charmant und frei, kindlich und raffiniert zugleich. Wie Buddha saß sie unter den Gästen zur Eröffnung, ein rarer Anblick, der einem klarmacht, wie sehr unsere Künstlerbühnen auf Ausschluss gebaut sind.

Der andere lebende Künstler der Ausstellung ist ein Amerikaner namens George Widener, der sich der Eröffnungszeremonie entzog und stattdessen lieber in der Nähe seiner Kunstwerke auf einer Bank saß. Er fragte mich, wann ich geboren sei, was ich ihm verriet. Er strengte sich für einen Moment sehr an und ließ mich dann wissen, dass ich an einem Freitag geboren wurde und dieses Jahr an einem Samstag Geburtstag hatte, und an diesem Geburtstag sei ich 18.628 Tage am Leben gewesen.

Seine Bilder, angelehnt an Kupferstiche, Landkarten, Blaupausen und Kalender, sind voll von Zahlen und Wochentagen, weit in die Zukunft reichend. Seine nach innen gekehrte Konzentration rührt aus einer bestimmten Art des Autismus. Sehr raffiniert verbindet er perspektivische Zeichnungen mit Listen von Daten und Namen. Vieles davon entsteht im Wald von North Carolina, den er sich mit den Bären teilt.

Die Interpretation der Werke ist schwierig, weil der Künstler als Stichwortgeber selbst ein Rätsel bleibt, aber nicht gewollt. August Walla, Patient der Anstalt Gugging bei Wien, glaubte, als „Nazimädchen“ geboren und durch eine Operation in einen „Kommunistendoppelknaben“ umgewandelt worden zu sein. Seine Fresken, an die Wand eines Zimmers gemalt, in dem er – mit seiner Mutter – hauste, zeigte ihn mit zweifachem Penis (einer für „Lulu“, der andere für „Lulumilch“). Wallas Arzt, Leo Navratil, fand heraus, dass sein Patient „nationalsozialistisch“ für „weiblich“ und „kommunistisch“ für männlich benutzte.

Tatsächlich könnte man die ganze Ausstellung als Gender/Transgender entschlüsseln, was dem etwas blumig geratenen Titel „Weltenwandler“ eine Richtung geben würde. Auffällig ist, dass sich die männlichen Künstler an den Chiffren von Vernunft und Hierarchie abarbeiten – Uniformen, Maschinen, Kartografie –, während die Künstlerinnen das Weibliche wuchern lassen: die brustfixierten Pastelle von Aloïse Corbaz, die physiognomischen Labyrinthe der Londoner Spiritistin Madge Gill.

Natürlich verläuft die Grenze nicht entlang dem biologischen Geschlecht: bei Friedrich Schröder-Sonnenstern, dem großen Berliner Außenseiter-Guru, wachsen die Blumen des Bösen aus allen Ritzen. Nimmt man die Kunst der „Outsider“, wie die Schirn sie historisiert, könnte man sagen, dass die Patriarchatskritik letztlich ihr gemeinsamer Nenner sei. Das Kriterium dessen, was einen Kreativen an den Rand befördert, ist vielleicht konkreter als gedacht.

■ Bis 9. Januar 2011, Schirn Frankfurt am Main