Drang zum göttlichen Licht

Philosophie schreit nicht gerade nach Exegese in einem Opernhaus: Vladimir Tarnopolskis Multi-Media-Avantgarde-Oper „Jenseits der Schatten“ wurde in der Bundeskunsthalle Bonn installiert

VON FRIEDER REININGHAUS

Vielleicht ist er ja ein später Jünger der Kunstreligion des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls ist der in Moskau lebende und am dortigen Konservatorium arbeitende Vladimir Tarnopolski einer, der es radikal ernst meint – mit der Kunst. Das stellte der 1955 in der Ukraine geborene Komponist, ein Schüler von Edison Denisow, in der Breshnew-Ära unter Beweis, als er – ein zorniger junger Mann – gegen die parteilichen und staatlichen Vorgaben für Kunstschaffen aufbegehrte (und erst einmal keine Chancen bekam). Das änderte sich mit Glasnost und Perestroika: 1989 wurde er zu einem der Initiatoren der ACM (Association of Contemporary Music), vier Jahre später gründete er CCMM (Centre for Contemporary Music Moscow) und ging auf die Suche nach dem „real spirituellen Leben“. Hierzulande konnte man auf Tarnopolski aufmerksam werden, als er 1999 mit „Wenn die Zeit über die Ufer tritt“ bei der Münchener Biennale reüssierte.

Ein erkenntnistheoretischer Text wie Platons „Höhlengleichnis“ schreit nicht gerade nach „Veroperung“. Doch ergab die Parabel aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. doch den durchaus geistreichen (und wohl auch von hochprozentigem Geist beflügelten) Hintergrund einer Tarnopolski-Performance in der Bonner Bundeskunsthalle. Der Komponist pflegte einen alles andere als akademischen Umgang mit dem Sujet. Er verleibte den weit reichenden Lehrtext seiner exzessiven Musik als phonetisches Material ein, nutzte ihn jedoch zugleich auch für einen losen Erzählfaden des maßgeblich auf Bewegung und pfiffige Video-Projektionen gestützten Abends.

Vorgestellt wird das platonische Gleichnis zum diskreten Präludieren der rechts und links vom Aktions- und Zuschauerraum postierten (und durch Wolfgang Lischke koordinierten) Instrumentalisten der musikFabrik NRW – von einem Herrn in den besten Jahren (Platon). Er skizziert Stufen der Erkenntnis: ausgehend von gefesselt in einer Höhle sitzenden Menschen, die den Widerschein von Feuer und Schatten an der Wand der Höhle für die Wirklichkeit halten.

Tatsächlich sitzen drei Opfer eines solchen Menschenversuchs (mit Preisauszeichnungsetiketten auf den Jacketts) vor einem Gebilde, das den Zuschauern wie ein überdimensionales Wespennest vorkommen mag, im Inneren aber tatsächlich „Höhle“ für Projektionen ist. Drei Kunst-Grazien – Eva Resch, Julia Rutigliano und Sibylle Hummel – locken und streiten mit hellen schönen Stimmen aus drei altgriechischen Säulen, die sich zu Leuchtröhren illuminieren: „Das Licht, das von allem ausgeht,“ fordert zum Suchen, Forschen und Erkennen heraus. Eines der schwarzen Menschlein befreit sich von den Fesseln, durchschaut den illusionären Charakter seiner bisherigen Annahme, hält aber die Versuchsanordnung für die Realität. Der Seitenhieb gegen den heutigen Fernseh-Durchschnitts-Rezipienten sitzt.

Er habe versucht, meint Tarnopolski, „interessante und leidenschaftliche Musik“ zu liefern. In der Tat entwickelt sie Phasen von exaltiertem „Einreden“ und begriffslos-bedrohlicher Heftigkeit – einen Hang zu mystischem Raunen, stärker freilich noch in der Tradition Skrjabins den „Drang zu göttlichem Licht“. Einer seiner singenden und tanzenden Akteure findet den Weg und die Wahrheit und das lichte Leben: den Ausgang aus der unverschuldeten Unmündigkeit und Erkenntnis des Verblendungszusammenhangs. Mit intensiver und abwechslungsreicher, vom Kratzen bis zum schönsten Wohllaut oszillierender Musik.

20:00 Uhr, Bundeskunsthalle, BonnInfos: 0800-1752750