Klangforscher der neuen Welle

Der Komponist Chen Xiaoyong wurde in China geboren, studierte bei György Ligeti und lebt in Hamburg und Shanghai. Sein künstlerisches Konzept ist die Klangerkundung – auf der Grundlage der Musik seiner Heimat

Mit einer von Saiteninstrumenten gezupften archaischen Quinte, deren Nachhall im Raum zerflattert, beginnt das Stück „Evapora“ des chinesischen Komponisten Chen Xiaoyong. Ein solcher fein nuancierter Klang, der sich vor einem Hintergrund aus Stille abhebt, könnte noch ebenso gut aus der aristokratischen Qin-Musik des alten China stammen. Doch Chens Musik nimmt bald einen anderen Weg: Der Titel „Evapora“ stammt vom englischen „evaporation“ (Verdunstung), denn die quasi-naturwissenschaftliche Erkundung des Tons zählt ebenso zu seinem Konzept wie die Reminiszenz an die Klangwelt seiner Heimat.

„Meine Wurzeln sind natürlich in China“, sagt Chen, „aber ich lebe jetzt seit 21 Jahren in Europa.“ Chen zählt somit zu jener Generation chinesischer Künstler, für die das Leben in zwei Kulturen zum selbstverständlichen Teil ihrer Biografie gehört, und die aus dieser Erfahrung den Weg zu einer neuen, eigenen Synthese suchen. „Wenn es schon eine tiefe Wurzel und einen starken Stamm gibt, ist es viel interessanter, was darauf wächst“, so bringt Chen das Verhältnis zu seinen chinesischen Ursprüngen selbst auf den Punkt.

Geboren wurde Chen Xiaoyong 1955 in Peking, er gehört somit zu jener Generation von Komponisten, denen man in China den Beinamen „xinchao“, „neue Welle“, gegeben hat. Wie bei Tan Dun, Bright Sheng oder Qu Xiao-Song gehören die Kulturrevolution 1966 bis 1976 und die politische Öffnung der 1980er Jahre ebenso zu seinen prägenden Erfahrungen wie das Leben und Arbeiten in einem westlichen Land. Während es aber die meisten seiner Generationsgenossen nach New York oder Paris zog, kam Chen 1985 nach Hamburg, um bei György Ligeti zu studieren.

Der Einfluss von Ligetis Denken und Persönlichkeit ist aus Chens Entwicklung auch kaum wegzudenken. Bezeichnend ist die Anekdote, wie sein Mentor bei ihrer ersten Begegnung 2.000 DM aus der Hosentasche zog und ihm mit den Worten übergab: „Gehen Sie ins Goethe-Institut, lernen Sie Deutsch, und wenn Sie später gut verdienen, geben Sie mir das Geld zurück.“ Seine eigenen Erfahrungen als Emigrant dürften dem Ungarn Ligeti dabei noch sehr präsent gewesen sein. Wichtiger noch als diese persönliche Hilfe aber waren die künstlerischen Impulse, die Ligeti seinem Schüler gab: Chens Stücke tragen z. B. Titel wie „Warp“, „Circuit“ oder „Static and Rotation“; hier kommt die Faszination für technische und natürlich Prozesse zum Tragen, die auch Ligetis Musik prägt.

„Du sollst nicht chinesisch sein, du sollst Chen sein.“ Dieser Rat seines Lehrers hat Chen schließlich zu seiner eigenen Sprache geführt. 1995 würdigte seine zweite Heimatstadt Hamburg dies mit ihrer höchsten Auszeichnung für Komponisten, dem Bachpreis. Heute lebt und arbeitet er in Hamburg und Shanghai, wo er einen Lehrstuhl für Komposition innehat. Politisch sei die neue Musik dort kein Thema mehr, berichtet Chen, man habe absolute ästhetische Freiheit, dafür sei aber die Not im Kampf um Geld und öffentliche Aufmerksamkeit umso größer: „Ähnlich wie im Westen.“

Ilja Stephan

nächste Konzerte: 26.9.2006, 19.30 Uhr, Freie Akademie der Künste, Hamburg: Porträtkonzert 1.10.2006, 20 Uhr, Forum der Hochschule für Musik und Theater Hamburg: Das Shanghai New Ensemble spielt 7 Uraufführungen, u. a. von Chen 8.11.2006, 20 Uhr, Rolf-Liebermann-Studio des NDR in Hamburg: Yue – Chinesische Gegenwartsmusik