Mit Chemie und Plätteisen

Land of the Free (3): Friseusen-Philosophie unter Amerikanerinnen – warum Locken ein „No-No“ sind

Laufe ich durch die Straßenschluchten von Manhattan, bin ich immer auf der Ausschau nach Landsleuten. Die männliche Nachkriegsgeneration erkennt man auch im 21. Jahrhundert daran, dass sie in Strümpfen und Birkenstock-Sandalen vor Hochhäusern steht und bildungsbeflissenen Gattinnen aus dem Baedeker vorliest.

Sind deutsche Frauen allein in New York unterwegs, ist es schwieriger, sie ausfindig zu machen. Ein Indikator ist die Frisur. Ein metallischer Rotstich identifiziert die Ossifrau, Henna outet oft die alternative Westlerin. Ganz klar ist: Hat frau kurze Haare, kommt sie aus Europa.

Die Wallmähne ist der ganze Stolz einer jeden Amerikanerin. Das Haupthaar wird offen getragen und sollte voluminös über die Schulter fallen. Während sich deutsche Frauen ab einem gewissem Alter oft eine patent-praktische Kurzhaarfrisur zulegen, haben in den USA auch 75-jährige Seniorinnen noch langes – und niemals graues – Haar. In den Drogerien gibt es endlose Regale mit Haarpflegeprodukten aller Gerüche und Preisklassen. Ein Haarschnitt bei einem guten New Yorker Friseur kostet locker an die 400 Dollar, die Amerikanerin investiert gern und großzügig in ihr Äußeres. Das Schönheitsideal in puncto Haar lautet feminin und glatt. Womit wir bei der zweiten Obsession wären: Die Haare müssen nicht nur lang, sondern auch glatt sein.

Die Physiognomie der Haare spiegelt offenbar den Charakter einer Frau wieder: Locken gelten als unkontrollierbar – glattes Haar zeugt von Anschmiegsamkeit. Besonders Afroamerikanerinnen leiden unter ihrer Naturkrause. Regelmäßig unterziehen sich viele von ihnen einer Entlockung mit beißenden Chemikalien und Plätteisen. Anschließend stehen die Haare steif wie ein Brett vom Kopf ab und haben jede Natürlichkeit verloren – aber sie sind glatt.

Dass Locken auch bei weißen Frauen verpönt sind, erfuhr ich bei meinem ersten Friseurtermin in New York. Rachel, die Friseuse (langes, seidig glattes, braunes Haar), wuschelte missbilligend durch meine Haare (straßenköterblond, lockig, höchstens kinnlang) und blickte mich bedauernd an. Offensichtlich entsprach ich nicht dem Schönheitsbild. „Honey, your hair is really frizzy“, sagte sie. „Frizzy“ bedeutet strohig-kraus und ist im amerikanischen Haarjargon ein absolutes No-No.

Rachel versprach, alles besser zu machen. Nach dem Waschen, Schneiden und Strähnchenfärben holte sie eine riesige Rollbürste und fing an, meine Haare zu fönen und mit Brachialgewalt von der Kopfhaut wegzuziehen. Eine halbe Stunde später war mein Kopf taub vor Schmerz, mein Haar aber goldblond, seidig glänzend und glatt.

Ich trat auf die Straße und tauchte ein in die Masse der amerikanischen Glatthaarfrauen, nicht mehr als Europäerin identifizierbar. Als ich meine Haare später wusch, kringelten sich die Locken wieder „frizzy“ in alle Richtungen. Unkontrollierbar europäisch. KIRSTEN GRIESHABER