Arzt auf Rädern

ÄRZTEMANGEL In der Region Wolfenbüttel ist die „Rollende Arztpraxis“ unterwegs – ein bundesweit einmaliges Projekt. Alle zwei Wochen fährt Jürgen Bohlemann in Orte, in denen es schon lange keinen Arzt mehr gibt

Mit der „Rollenden Arztpraxis“ werden seit August 2013 neue medizinische Versorgungsformen auf dem Land getestet.

■ Der wie eine Hausarztpraxis ausgestattete Kleinbus fährt Gemeinden um Wolfenbüttel an, in denen es keinen Arzt mehr gibt.

■ AOK, IKK classic, BKK Landesverband Mitte, Landwirtschaftliche Krankenkasse, Knappschaft und Barmer beteiligen sich. Wer nicht Mitglied dieser Kassen ist, wird nicht behandelt.

■ Die behandelnden Ärzte sind bei der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) angestellt und werden für die Arbeit in der Rollenden Praxis freigestellt.

AUS WINNIGSTEDT FRIDA KAMMERER

Der Morgen hat gut angefangen. Es ist sonnig, die tiefen Nebelbänke über den Feldern haben sich aufgelöst. „Ich habe aber die Temperaturen unterschätzt. Ist das kalt“, sagt Jürgen Bohlemann und setzt sich hinters Steuer des zur Hausarztpraxis umgebauten weißen Kleinbusses.

Es geht von Wolfenbüttel bis nach Winnigstedt. Auf der halbstündigen Autofahrt zieht ein A aus gelb angemaltem Holz vorbei, ein Protestsymbol. Es steht auf einem Hügel abseits der Straße. Nicht weit von hier lagert in 1.000 Metern Tiefe der Atommüll im Zwischenlager Asse.

„Wir versuchen hier Zukunft“, sagt Bohlemann, der sich selbst einen muskulösen Typen nennt und den ein wenig Schwarzwald-Klink-Flair umweht. Seine 63 Jahre sieht man ihm nicht an, er geht als Endvierziger durch. Die Zukunft, die sie hier versuchen, ist das Pilotprojekt „Rollende Arztpraxis“, das im Rahmen der Initiative „Zukunftsregion Gesundheit“ ins Leben gerufen wurde. Alle zwei Wochen ist Bohlemannn unterwegs in Orte, in denen es schon lange keinen Arzt mehr gibt.

Ein Problem vor allem in den Flächenländern wie Niedersachsen. Hier schrumpfen die Dörfer. Viele ziehen weg oder sterben und nur wenige kommen aus der Stadt ins Dorf. So verhält es sich auch mit den Ärzten: Wer seit Jahrzehnten eine Praxis auf dem Land hat, der bleibt. Doch geht ein Arzt in Rente, übernimmt oft niemand die Praxis. In der Region Wolfenbüttel probieren sie nun aus, wie man damit künftig umgehen kann.

In Winnigstedt angekommen, parkt Bohlemann die Praxis auf einer Wiese vor einem alten Fachwerkhaus. Es ist das Schützenhaus und dient jetzt als Wartezimmer. Drinnen steht Kaffee auf einem Tisch bereit. Die ersten Patienten warten schon.

Brigitte Jürges ist als erste dran. Zu ihrem Hausarzt müsste die 57-Jährige über eine Stunde fahren. Darum kommt sie öfter in die Arztpraxis auf der Wiese. Immer nur für Kleinigkeiten wie Rezepte oder ein EKG. „Letztes Mal hatten Sie gesagt, dass wir ein Blutbild machen?“, fragt Jürges. Bohlemann nickt und holt eine kleine graue Packung aus dem Kühlschrank. In ihr befindet sich ein Löffel mit kleinem Chip. Bohlemann nimmt Jürges Blut ab, sie schaut weg. Er träufelt Blut auf den Löffel und schiebt ihn in ein Gerät, das etwa so groß ist wie ein Fotodrucker. Nach sechs Minuten liefert es ein Blutbild.

Etwa 3.000 Euro kostet die kleine Maschine. Er könnte das Blut auch an ein Labor schicken, sagt Bohlemann, aber was dann? „Dann schicken die das in mein Büro und wenn das nächste Mal meine Kollegin hier ist, fehlt ihr das Ergebnis.“ Was nicht vor Ort gemacht werden kann, wird deswegen auch nicht gemacht. Später möchte eine Patientin ihre Schilddrüsenwerte untersuchen lassen. Bohlemann hat nicht das passende Gerät und schickt sie weg. Die Patientin wird vier Stunden zu ihrem Hausarzt fahren müssen.

In Winnigstedt leben knapp 800 Einwohner und einen Arzt gibt es schon seit Beginn der 1990er-Jahre nicht mehr. Bevor die Rollende Arztpraxis alle 14 Tage hier haltmachte, mussten die Winnigstedter für ein Rezept nach Schöppenstedt oder Wolfenbüttel fahren. Das sind die beiden nächsten größeren Dörfer in der Gemeinde. Noch praktizieren hier drei Ärzte, einer von ihnen hört im August auf.

Bohlemann arbeitet für die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN) und berät Ärzte bei ihrer Praxisführung – zum Beispiel wenn Modernisierungen anstehen. Für die Arbeit in der Kleinbus-Praxis ist er freigestellt, alles, was er währenddessen nicht bearbeitet, bleibt liegen.

Die Ersatzkassen beteiligen sich mit Ausnahme der Barmer nicht an dem Projekt. Der Verband der Ersatzkassen erklärt die mangelnde Unterstützung damit, dass es für den Patienten besser sei, wenn nur ein Hausarzt behandele. Nur so gingen keine Informationen verloren. Bohlemann winkt ab, die Mediziner der „Rollenden Praxis“ schreiben nach jeder Behandlung Arztbriefe an die jeweiligen Hausärzte. Die Universität Braunschweig hat extra ein Verschlüsselungssystem entwickelt, damit die Briefe sicher auf einem Server gelagert und abgerufen werden können.

Ein weiteres Argument des Ersatzkassenverbandes gegen die mobile Praxis ist, dass der Landkreis Wolfenbüttel mit 97,8 Prozent ausgelastet sei mit Hausärzten. Was diese Rechnung aber nicht mit einbezieht, ist der Standort der Ärzte. In Winnigstedt, Dahlum, Burgdorf, Flöthe und Cramme fehlen Ärzte. Diese Orte steuern Bohlemann und seine KollegInnen an. Burgdorf soll allerdings mangels Nachfrage gestrichen werden. Dort hat Bohlemann schon die drei Stunden Dienst gewartet, ohne dass jemand kam. An den besten Tagen kommen schon mal zehn Patienten zu ihm in den Bus.

Den Ärztemangel auf dem Land will der Ersatzkassenverband mit Hausbesuchen durch Praxisassistentinnen ausgleichen. Statt einer rollenden Arztpraxis sollten Assistenten Hausbesuche machen. Diese dürfen aber keine Rezepte ausstellen, das dürfen nur Ärzte. Und Bohlemann hat selbst auch schon Hausbesuche angeboten, als er mit der rollenden Praxis anfing. Aber nur einer hat das Angebot angenommen, die Leute kommen lieber zu ihm in den Bus.

Wie Luzia Dessaul. Bohlemann nennt sie nur „Luzy“. Schon im Schützenhaus hatte sie gehustet. Bohlemann möchte sie abhören. „Aber dafür bin ich doch gar nicht angezogen!“, protestiert sie kurz, zieht dann die Bluse hoch. Rasselnd hustet sie ein paar Mal, Bohlemann verschiebt immer wieder das Stethoskop. „Rauchen wir etwa?“, fragt Bohlemann. „Muss ich das gestehen?“, gibt Dessaul wieder. Sie spielt mit dem Henkel ihrer Handtasche. „Früher war das schick, da rauchte jeder. Heute ist das verteufelt“, sagt sie. Sie rauche ja auch nur die Leichten. Auch ihr Rücken macht ihr Probleme, die neuen Medikamente helfen nicht. Gerne hätte sie ein Rezept für die alten, die haben geholfen. Doch für diese braucht man ein spezielles Rezept, welches auf den Namen des Arztes registriert wird. Das hat Bohlemann nicht mit. Dessaul müsste über eine Stunde mit dem Bus in den nächsten Ort fahren, nur für ein Rezept. Da wartet sie lieber 14 Tage bis Bohlemann wieder da ist.

Ende des Jahres könnte Bohlemann zum letzten Mal auf der Wiese in Winnigstedt haltmachen. Zum Jahresende läuft das Projekt aus. Das Land Niedersachsen müsste nachfinanzieren, auch die Krankenkassen müssten weiterhin ihr Einverständnis geben. „Wenn das Projekt Ende des Jahres endet, gehe ich in Rente“, sagt Bohlemann.