Operation „Goldener Herbst“

Wenn Ramsey ruft „Da staunt der hintere Orient!“, wackelt Elke Severin mit dem Po

AUS THALE THOMAS GERLACH
UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Die Sprüche sind so alt wie Johannes Heesters, mindestens. Auch der Herbst hat schöne Tage. Man ist so alt, wie man sich fühlt. Und natürlich: Je oller, je doller. Siegfried „Siggi“ Trzoß kann sie alle aus dem Anzugärmel zaubern, als wären sie frisch wie Schnittblumen. Das wird er auch heute tun, an diesem herbstgoldnen Sonntag in der Stadthalle von Thale. Die 10.000-Einwohner-Stadt am Ostrand des Harzes – gelegen im hübsch zerklüfteten Bodetal und ausgestattet mit schattigen Pfaden und Pavillons – scheint wie geschaffen für eine Tagesfahrt für Rentner.

Welche Aussichten haben Rentner hier in Sachsen-Anhalt? Spazieren gehen? Die morgendlichen Geburtstagsgrüße im Heimatradio? Fernsehgucken? Der Berliner Siegfried Trzoß ist seit drei Tagen in Thale, um dieser Eintönigkeit ein Ende zu bereiten. Trzoß hat eine Show im Gepäck, die – fasst man den demografischen Wandel ins Auge – Furore machen könnte. Es ist eine Art „Deutschland sucht den Superstar“ – mit dem Unterschied, dass die Kandidaten mindestens 50 Jahre alt sein müssen. Und so sucht sein Grand Prix „Goldner Herbst“ erstmals auch hier Sänger, Tänzer und Artisten. Von mehr als 40 Bewerbungen hat Trzoß elf ausgewählt. Trzoß – „Sagen Sie einfach Troß!“ – ist ein Sisyphos der guten Laune, einer, der sich nicht von dem Gedanken schrecken lässt, dass am Ende Freund Hein doch jeden holt.

Schlag 14 Uhr tönt die Fanfare, Siegfried Trzoß singt seinen Muntermacher und dirigiert mit schwingendem Arm: „Lachen tut so gut, auch wenn dir zum Weinen ist!“ Eine Frau beugt sich herüber, ruft: „Nein, machen wir nicht!“, dann schunkelt sie los wie hypnotisiert. Eine Drei-Minuten-Trance beginnt und die schunkelnde Gemeinschaft drückt mit den Pobacken alles weg, was das Leben im Alter beschwerlich macht: die Traurigkeit über die Spanne Leben, die noch bleibt, die Schmerzen, die jeder eingesteckt hat, und die Träume, die wohl Träume bleiben werden.

Alle Träume perdu? Nicht alle. Freund Hein? Soll nur warten! Dieter Wittchen, ehemaliger Fachschullehrer aus Thale, ist 69 Jahre alt und der Erste, der zeigt, was er kann. Wann noch einmal auf die Bühne klettern, wenn nicht jetzt?, hatte er noch bei der Generalprobe gefragt. Er singt mit tiefstem Bass immer wieder „… und grüßet mir vieltausendmal mein herrlich schönes Bodetal!“ Eine Frau bedauert: „Wittchen hatte den falschen Beruf, er hat einen schwarzen Bass, was ganz Seltenes. Wenn er ausgebildet worden wäre …“

Der schwarze Bass trägt heute Jeans und Sweatshirt, präsentiert sein Lied mit Lakonie und hebt, als das Publikum zu klatschen beginnt, fast unwillig die Hand, als wolle er sagen: Macht keinen Quatsch, ich hab doch bloß für mich selber gesungen. Opernsänger wird er nicht mehr werden, mit der Rolle des Boris Godunow oder des Sarastro wird sein Leben nicht mehr gekrönt. Stattdessen bekommt Dieter Wittchen die Teilnehmerurkunde mit der Unterschrift von Siegfried Trzoß. Dieter Wittchen wird später noch sagen: „Das, was der Herr Trzoß macht, ist genau das Richtige!“

Die Männer scheinen vor allem mit sich selber gerungen zu haben, da war keine Zeit für Kostümschneider und aufwändige Maske. Die Frauen legen eine professionellere Show hin und sie sind, was die Garderobe betrifft, deutlich kreativer. Einzig Willi Schöps sticht heraus: Der 68-Jährige hat sein Artistengewand angezogen und läuft in funkelnder Weste, etwas gebeugt, doch sehr elastisch durch den Saal. Mit seinem schwarzen Haar und dem Oberlippenbart verströmt er etwas Südländisches. Schöps schiebt sich einen Dolchknauf in den Mund, setzt auf die Messerspitze ein Schwert und balanciert darauf wiederum drei Schnapsgläser. Dass es zum Schluss Scherben gibt, ist nicht schlimm. Der Rentner hätte heute alles zerdeppern können, die Herzen wären ihm trotz allem zugeflogen.

Schöps könnte einen Künstlernamen gebrauchen, Don Alfredo vielleicht. Der 66-jährige Manfred Thiel würde so was ablehnen. Er scheint es auf das Outlaw- Image abgesehen zu haben: Unrasiert, der Schweiß rinnt ihm von der Stirn, in Jeans und Anglerweste läuft er durch den Saal und streckt seinen Bauch heraus. Der pensionierte Kriminalbeamte ist Singer-Songwriter aus dem Dorf Niegripp bei Magdeburg.

Thiel hat heute zwei Ziele: Zum einen möchte er das Jerichower Land, den Landkreis, in dem er lebt, bekannter machen. Das andere stößt er fast hinaus. „Ich will raus!“ sagt er. „Raus aus dem Gartenlokal, rauf auf die Bühne!“ Seitdem ihm sein Sohn vor drei Jahren „dieses Dings“, einen Synthesizer, geschenkt hat, ist Thiel wieder Musiker wie vor dreißig Jahren, als er als DDR-Polizist in einer Polizei-Combo gespielt hat. Er probe dreimal am Tag, sagt er, komponiere, texte und spiele gelegentlich in Gartenlokalen, außerdem male er auch.

Thiel ist der Lonely Cowboy des Nachmittags. Seine Frau habe es mit den Beinen, sein Sohn sei gerade Vater geworden und unabkömmlich und das Jerichower Land ist so weit weg wie Santa Cruz. Sein Lied ist anfangs pure Melancholie: „Ich spiele diese Melodie / mit krummem Rücken, weiche Knie.“ Es endet unerwartet: „Ich leb’ unbeschwert und manchmal froh, / die Kohle, die kommt sowieso, / da bin ich heute besser dran / als mancher junge Mann.“ Starker Applaus, ein Ehepaar nickt sich zu.

Siegfried Trzoß sitzt während der Auftritte auf der Bühne an einem weiß gedeckten Tisch, er wippt mit den Füßen, nickt mit dem Kopf. Trzoß hält Hof wie ein alt gewordener Orpheus. Wer im Namen des deutschen Schlagers unterwegs ist, muss ein weites Herz haben, und wessen Herz für die DDR-Tanzmusik pumpert, musste seit 1990 viele Niederlagen hinnehmen. Die Ost-Schlager sind aus der Öffentlichkeit nahezu verbannt, einzig der Mitteldeutsche Rundfunk gewährt ihnen Asyl. Und Siegfried Trzoß, dem mit seiner „Amiga-Plattenkiste“ vom damaligen Sender Freies Berlin 2001 der Regler abgedreht wurde und der seitdem beim Offenen Kanal Berlin weitersendet; Trzoß hätte sich schon ein Dutzend Tapferkeitsmedaillen verdient.

Jeder hatte schon sein Waterloo, und jeder feiert seinen Triumph. Auch Elke Severin. Mit 55 Jahren die jüngste Teilnehmerin, hat sie zwar ein funkelndes Kostüm an, doch null Chancen. Warum sie Bauchtänzerin geworden ist? Um es kurz zu machen: Die Erzieherin hatte Gewichtsprobleme und begann vor sieben Jahren in einer Tanzgruppe.

„Kennt ihr die Zuckerpuppe aus der Bauchtanzgruppe?“, schnarrt Bill Ramsey aus den Lautsprechern, und schon lässt Elke Severin einen schwarzen Schleier wehen, dreht sich auf goldnen Schuhchen, und immer, wenn Ramsey singt „Da staunt der vordere Orient!“, wackelt sie mit ihren Brüsten. Und wenn Ramsey ruft „Da staunt der hintere Orient!“, wackelt sie mit dem Po. Sie lächelt dann sehr angestrengt, und der hintere Orient staunt immer etwas mehr.

Bei ihrem zweiten Tanz wachsen Frau Severin goldfarbene Flügel, mit denen sie sehr effektvoll umzugehen weiß. Applaus brandet auf. Dann kommt ein übergewichtiger Herr mit rotem Kopf nach vorn, reicht ihre eine rote Rose und küsst sie auf den Mund. Und dann wird Elke Severin von ihren Tanzfreundinnen in den Arm genommen. Und nicht nur Siegfried Trzoß hat das Gefühl, hier am richtigen Ort zu sein.

Als der Telefonist Dieter Konkolewski zuerst ein Bekenntnis zu Hildegard Knef ablegt und dann mit butterweicher Stimme singt „Eins und eins, das macht zwei“, zittert nicht nur seine Hand. Eine Reise nach Berlin zum Endausscheid würde er nicht überstehen. Noch nicht.

Konkolewski kann sich Zeit lassen, er ist erst 54 Jahre alt. Noch jünger ist nur der singende Polizist Wolfgang Erdmann aus dem Elbedorf Loitsche. Erdmann, ein Kumpel aus der FDJ-Singebewegung, spielt eigene Lieder auf der Klampfe, gute Lieder, leider nichts zum Schunkeln. Keine Chance. Und eigentlich ist er ja auch viel zu jung.

Zum Schluss geht alles schnell, die Jury entscheidet sich für vier Gewinner: Zum Grand-Prix-Finale am 12. November in Berlin-Marzahn fährt die Gruppe „ad libitum“ aus Thale, acht Damen, die 20er-Jahre-Hits präsentierten, weiter ein pensionierter Lehrer mit Otto-Reutter-Couplets und der singende Seemann und Freddy-Quinn-Verehrer Dieter Gehrmann. Ach so, und Elke Severin fährt auch. Eine echte Überraschung. Der Traum geht für sie weiter. Alles staunt. Nichts wird weggeschunkelt.

Nur die Liedermacher, die Polizisten Thiel und Erdmann, sind schlecht weggekommen. Warum? „Zu anspruchsvoll“, raunt Siegfried Trzoß im Vorbeigehen. Polizist Thiel ist dennoch hochzufrieden. Einen Plattenvertrag hat er zwar noch nicht, doch am Kuchenbüfett ist ihm angeboten worden, bei einer Rentnerfahrt aufzutreten. Allerdings musste er absagen, denn da hat er schon eine Ausstellungseröffnung, Thiel ist ja auch Maler, im schönen Jerichower Land.

Voll ist die Stadthalle nicht geworden. 250 zahlende Gäste bei sechs Euro Eintritt, Kaffee und Kuchen fast geschenkt, Trzoß betont, dass alle Helfer auf Gagen verzichten und dass er keine Teilnehmergebühren erhebt. Sponsoren helfen: das Autohaus Gottschalk, die Stadtverwaltung Thale mit Bürgermeister und Azubis, die den Kuchen gebacken haben. Siegfried Trzoß, 62 Jahre alt, hätte sich heute wieder mal eine Medaille verdient.

Elke Severin verlässt die Stadthalle wie eine Diva. Im November reist sie nach Berlin. Dort wird sie unter anderem auf die 90-jährige Rezitatorin Irma Uhlig aus Chemnitz treffen, den 80-jährigen Akrobaten Harry Witte und den 68-jährigen Panflöten-Virtuosen Gregor Klatt aus Mecklenburg-Vorpommern. Ihre Freundinnen werden sie begleiten.

Siegfried Trzoß ist erschöpft, doch wirkt er sehr zufrieden. Er hat jetzt nur einen Wunsch: seinen Grand Prix möglichst bald im Westen zu etablieren. Außerdem träumt er von einer Nachtbar für Senioren. Das Motto steht schon fest: Je oller, je doller.

www.siggitrzoss.de