Oben schlaff, untenrum geliftet

Wäre man Einzelhändler, es würden einem wohl die Tränen kommen. Nachmittags, kurz vor eins – die Stadt ist nahezu ausgestorben

AUS SIEGEN BORIS R. ROSENKRANZ

Stille. Keine eilenden Menschen, die Koffer hinter sich herziehen. Keine Durchsagen. Kein Gedränge. Nichts. Die Halle des Siegener Hauptbahnhofs ist nahezu ausgestorben. In der Mitte des etwa vier Wohnzimmer großen Raumes sitzt eine Frau auf einer Bank und gähnt. Rechts von ihr geht es in das so genannte Servicezentrum der Deutschen Bahn. Gegenüber, direkt neben den Schließfächern, führt eine Glastür in die „Siegerlandstuben“, die obligatorische Bahnhofskaschemme, in der sich eine Hand voll Männer mit Bier beschäftigt. Es ist kurz vor zwölf Uhr mittags. Wenn sich die Tür der Bahnhofshalle öffnet, dringt für Sekunden Lärm vom Vorplatz hinein. Dann wieder: Stille. Gähnen. Nichts.

Siegen, das ist der Geburtsort von Peter Paul Rubens (Maler) und Karin Tietze-Ludwig (Lottofee). Ansonsten ist die selbst ernannte „Provinz voll Leben“ eine jener Städte, die eher nicht in den Nachrichten vorkommen. Es sei denn, die Erde gibt nach, wie vor zwei Jahren, als sich ein Bergbaukrater öffnete und ganze Häuserteile schluckte. Oder 1999, als Ex-Beatle Paul McCartney auf die Idee kam, ausgerechnet hier, im südwestfälischen Dreiländereck, erstmals seine Paintings auszustellen. In einer 105.000-Menschen-Stadt, in der es außer zwei Schlössern, 12.500 Studenten und einem Fußball-Regionalligisten damals nicht viel gab. Die englische Presse hatte ihre liebe Mühe, das zu erklären.

Ein anderer Auftritt Siegens in die Medien war weitaus unangenehmer als der wegen McCartneys Gepinsel. Die Hamburger Illustrierte Stern hatte sich die Stadt als „Lehrstück“ für Städtesterben ausgesucht und brachte eine mehrseitige Geschichte. Das war im Jahr 2004. Der Alleshändler Karstadt kämpfte gerade ums Überleben und der Stern erkannte in Siegen eine Krisenregion. Genauer gesagt: in der Oberstadt des auf sieben Bergen gebauten Örtchens, die nach dem Bau einer dreistöckigen Shoppingmall in der Unterstadt, direkt vor dem Bahnhof, langsam vor sich hin starb. Verwaiste Ladenlokale. Sinkender Umsatz. Geschäftsaufgaben. Vor allem traditionelle Siegener Unternehmen gaben auf. Die Oberstadt gleiche einem „Gebiss, in dem die besten Füllungen, Brücken und Kronen nicht mehr halten“, gruselten sich die Hobby-Zahnärzte des Stern.

Heute, zwei Jahre später, hat Siegen sein Gesicht wieder verändert. Die Stadt befindet sich in einem stetigen Wandel. Inzwischen hat der schwedische Bastelladen IKEA am Stadtrand eine Filiale eröffnet, Dolly Buster betreibt einen Erotikmarkt, die Fußballer der Sportfreunde Siegen wollen bis 2009 ein gigantisches Stadion, pardon: eine Arena bauen, die Siegerlandhalle wird aufgemotzt, und auch in der Unterstadt tut sich viel, um nicht zu sagen: das meiste. Ein Theater wird gebaut, mit Landesmitteln. Und wenn man die Bahnhofshalle verlässt, steht man direkt im neuen Zentrum. Rechter Hand die City-Galerie, jene Shoppingmall, die für Käuferströme aus dem platten Umland sorgen sollte, es aber nicht schaffte. Stattdessen konnten wenigstens die eigenen Käufer gebunden werden, was wichtig war, da Köln nur 45 Autominuten entfernt liegt und die Domstadt vor allem samstags voller Siegerländer ist. Gegenüber vom Bahnhof eröffnet heute ein weiteres Büro- und Einkaufszentrum, das so genannte Sieg-Carré. Wo zuvor eine Häuserzeile langweilte, protzt nun ein moderner Glas-Beton-Bau, von der örtlichen Sparkasse finanziert.

Dass damit abermals zu Ungunsten der Oberstadt investiert wird, streitet Armin Benfer ab. Der Sprecher der Sparkasse sitzt in seinem Büro, direkt angrenzend ans Sieg-Carré in einem weiteren Neubau, und will über alles reden, nur nicht über Geld. Wie viel das Sieg-Carré gekostet hat, ist Geheimsache. „Kosten können immer falsch interpretiert werden“, weiß Benfer. Deshalb rede man darüber im Hause nicht. Nur soviel: „Wir machen es, weil es sich für uns rechnet.“ Sein Haus wolle in erster Linie Rendite erzielen und nicht „stadtbildprägend bauen“. Und dann sagt Benfer, was alle hier sagen, die damit betraut sind, dass Siegen untenrum schön wird: „Ober- und Unterstadt haben unterschiedliche Aufgaben.“ Höchste Zeit, in die Oberstadt zu gehen.

Auf dem Bahnhofsplatz lärmt es. Busse kommen an, Taxen fahren ab. Menschen kommen aus der City-Galerie, bepackt mit Taschen und Tüten. Und in der Mitte des Platzes schiebt ein Mann eine dampfende Maschine über das Pflaster. Der Mann ist von einer Spezialfirma, die Maschine beseitigt fest gepappte Kaugummis und Dreck. Siegen macht sich schick für den großen Tag, wenn im Sieg-Carré Textilketten einziehen und Gastronomie. Sobald man um die Ecke in die Bahnhofstraße biegt, wird es bedeutend stiller. In der Mitte haben sich inzwischen Straßencafés eingerichtet, die meistens gar keine Cafés sind, sondern mobile Getränkewagen. Oder portable, brusthohe Warmhalteboxen. Aus einer zieht eine Frau gerade Nudeln und packt sie in Pappe.

Bevor man die Oberstadt erreicht, muss man zunächst die Sieg überqueren, den städtischen und kriminell in Beton gefassten Fluss. Dann stört eine mehrspurige Bundesstraße, bevor es die angeblich steilste Einkaufsstraße Deutschlands hinauf geht. Den Unterschied merkt man gleich: Hier sind weniger Menschen, weniger große Geschäfte. Und es ist so still wie in der Bahnhofshalle. Wäre man Einzelhändler, es würden einem wohl die Tränen kommen. Nachmittags, kurz vor eins – die Stadt ist nahezu ausgestorben. Astrid Schneider ist trotzdem zufrieden mit der Entwicklung der Innenstadt. Und auf den Stern-Artikel äußerst schlecht zu sprechen. Die Geschäftsführerin der Gesellschaft für Stadtmarketing sitzt im Rathaus am oberen Ende der Oberstadt und erzählt, dass sie vor vier Jahren mit dem „Leerstandsmanagement“ begonnen hätten. „Damals waren 30 Läden zu, heute sind es nur noch acht.“ Damit stehe Siegen im Vergleich zu anderen Städten gut da. Dass die Käuferfrequenz in der Unterstadt höher sei als in der Oberstadt, räumt Schneider ein. „Aber das hat nichts mit Verödung zu tun“, weiß die Stadtvermarkterin, die auch Pressesprecherin ist. Sie macht ihren Job gut. Redet. Kämpft. Und sagt diesen Satz: „Die Funktionen von Ober- und Unterstadt haben sich verschoben.“ Oben sei kein Platz mehr für großflächigen Einzelhandel. Aber für kleine Fachgeschäfte, Gastronomie, Kultur.

Schräg gegenüber vom Rathaus soll deshalb in Kürze das alte Kaufhaus Kerber wiederbelebt werden. Jahre lang stand es leer. Nun ziehen Volkshochschule, Stadtarchiv und Bibliothek ein. Außerdem sollten eine Supermarktkette und ein Bekleidungsgeschäft aus dem Ruhrgebiet hier eine Filiale eröffnen. Geblieben ist nur der Supermarkt. Der Textilhändler ist in letzter Sekunde abgesprungen. Über Gründe redet man in diesem Fall so wenig wie die Sparkasse über Geld. Ob es daran liegt, dass die Lage nicht die beste ist? Spekulation. Und während man die Stadt hinunter geht, hört man das leise Surren einer Tätowiermaschine. Es kommt aus einem, um im Marketingjargon zu bleiben, Facheinzelhandel für Körperschmuck. Man hört es deutlich. Obschon der Laden noch einige Meter weit entfernt ist.

Etwas weiter, hinter Karstadt, befindet sich das Untere Schloss. Auf dem Platz davor arbeitet die Stadt ebenfalls für die Belebung der Oberstadt. Hier werden Musicals gespielt, einmal quiekte Modern Talking, im Sommer wurde Fußball-WM geguckt. Und damit die Menschen auch winters herkommen, wird dieses Jahr erstmals der Weihnachtsmarkt vor die historische Kulisse verlegt: Glühwein trinken vor schwedischen Gardinen. Sozusagen. Im Unteren Schloss befindet sich nämlich der Knast.