„Die EU darf kein Elitenprojekt mehr sein“

Seit den gescheiterten Verfassungsreferenden kriselt es in der EU. Manche, wie der Franzose Sarkozy, wollen einen reduzierten EU-Vertrag. Der grüne EU-Politiker Johannes Voggenhuber meint indes: Nur ein großer Wurf hilft

taz: Herr Voggenhuber, wie würden Sie die Stimmung im politischen Europa derzeit beschreiben?

Johannes Voggenhuber: Es gibt eine große Müdigkeit, eine politische Lähmung, Hilflosigkeit gegenüber der Krise. Das gilt auch fürs Europaparlament. Und die Regierungen nutzen das zu ihrer Stärkung, handeln nur aus innenpolitischen Erwägungen. Sie nehmen die Schwächung Europas bewusst in Kauf.

Die meisten EU-Optimisten sitzen nach einer Umfrage in Frankreich und den Niederlanden. Überrascht Sie das?

Diese Gründerstaaten haben sich mehrheitlich eine schöne, klare, historische europäische Verfassung gewünscht. Der große Irrtum in dieser Krise besteht ja in der Behauptung, die Ziele wären zu hoch gesteckt gewesen. Das Gegenteil ist wahr: Unsere Kompromisse waren zu faul. Die Erwartungen der Menschen gehen viel weiter, als die Regierungen bereit waren zu gehen.

Der Mini-EU-Vertrag, den Nicolas Sarkozy in die Debatte gebracht hat, würde die Substanz der Verfassung ja durchaus erhalten.

Er will die Rosinen aufessen und den Kuchen später backen.

Immerhin kommt in die Verfassungsdebatte Bewegung. Das müsste Sie als Befürworter des Projekts freuen …

Sarkozy hat ein paar längst fällige Einsichten laut ausgesprochen. Die Verfassung kann so nicht in Kraft treten. Legitime Erwartungen blieben unerfüllt, Verbesserungen sind also notwendig. Die Frage, welches Europa die Menschen wollen, muss debattiert werden. Wo sind die Grenzen? Was ist die Rolle in der Welt? Brauchen wir einen gemeinsamen Rechtsraum? Was ist mit den Finanzen? Vier Jahre lang haben die Regierungen verhindert, dass eine grenzüberschreitende Debatte darüber zustande kommt.

Der konservative Sarkozy spricht Ihnen also aus der Seele?

Nein, er hat vor allem herausgegriffen, was für die Regierungen nützlich ist, für das Funktionieren des Apparats. Es fehlt eine Antwort auf die Frage, was mit der Grundrechte-Charta geschehen soll. Die sozialen Rechte spielen ja gerade in Frankreich eine große Rolle. Problematisch ist auch sein Vorschlag, kein weiteres Referendum abzuhalten. Die tiefe Vertrauenskrise in Europa kann nicht überwunden werden, wenn der erste Schritt ohne die Menschen gemacht wird. Die Botschaft wäre dann wieder: Europa ist ein Projekt der Eliten.

Sarkozy schlägt ja durchaus entscheidende Neuerungen vor. Das Vetorecht soll abgeschafft werden. Wer Nein sagt, muss nicht mittun, kann aber die Zusammenarbeit der anderen nicht verhindern. Gefällt Ihnen die Idee?

Das ist bei näherem Hinschauen nichts anderes als das berühmt-berüchtigte Europa à la carte. Ist die europäische Einigung ein historischer Prozess, den wir alle gemeinsam unternehmen? Oder machen wir einen Supermarkt daraus, wo man sich frei bedient? Das hätte sehr weit reichende Konsequenzen. Angesichts der Globalisierung würde es völlig ins Leere laufen, wenn einige Länder gemeinsame Sozialpolitik machen, andere gemeinsame Steuerpolitik, wieder andere schließen sich für die WTO-Verhandlungen zusammen oder in der Energiepolitik. Europa wäre von außen nicht mehr wahrnehmbar als politischer Akteur.

Einige Regierungen drängen darauf, im Bereich Justiz- und Innenpolitik schon jetzt zur qualifizierten Mehrheit überzugehen. Die Bundesregierung ist dagegen, weil so die Verfassung zerpflückt würde. Ist die Sorge berechtigt?

Schäuble. Er möchte die Verfassung nicht gefährden! Köstlich ist das. Die Vertrauenskrise speist sich unter anderem daraus, dass die Regierungen in Fragen der inneren Sicherheit hinter verschlossenen Türen ohne parlamentarische Kontrolle Entscheidungen treffen, die ins Leben jedes Bürgers eingreifen. Stichwort CIA-Affäre, Stichwort Flugdaten.

Der Bundesregierung soll im kommenden Halbjahr den Verfassungsprozess wieder in Gang bringen. Frau Merkel sorgt sich ja hauptsächlich um den Gottesbezug in der Präambel …

Was die Deutschen im Augenblick tun, ist mir völlig unklar. Es steht im Widerspruch zu den großen Erwartungen, die mit dieser Ratspräsidentschaft verbunden sind. Das Gerede von Sozialprotokollen zum Beispiel. Da soll sie den Franzosen mit kommen, mit irgendeinem unverbindlichen Sozialprotokoll.

Wie sieht Ihr Lösungsvorschlag aus?

Europa kommt nur mit einem großen Wurf aus der Krise, nicht mit Kriechschritten. Ich würde einen kurzen Verfassungszusatz formulieren, höchstens drei Seiten, der die sozialen Ziele klar definiert. Diesen Text würde ich erneut in einem Referendum den Wählern vorlegen. INTERVIEW:
DANIELA WEINGÄRTNER