Der Geist Sun Ras

KONZERT DJ Mike Huckaby aus der Techno-Geburtsstadt Detroit legte in der außen wie innen sorgsam runtergekommenen Farbfernseher-Bar auf

Das hochfrequente Fiepen des Synthesizers klingt wie R2-D2 auf den letzten Metern vor der Roboterschlachtbank, schummriges Kerzenlicht wirft flackernde Schatten auf die nackten Betonwände. Im Farbfernseher, einer außen wie innen sorgsam runtergekommenen Bar in Kreuzberg, kommt man sich an diesem Donnerstagabend vor wie bei einem geheimen Ritual einer Freimaurerloge. Die etwa 50 Augenpaare der dicht gedrängten Gäste kleben gebannt am DJ-Pult. Dahinter: Mike Huckaby aus der Techno-Geburtsstadt Detroit, hochkonzentriert, fast autistisch in die Musik versunken. Anders als bei einem gewöhnlichen Clubabend kommen die Klänge nur zum Teil von Schallplatte und schon gar nicht aus einem Laptop, sondern vom Tonband. Das steckt aber nicht in einer gewöhnlichen Kassette, sondern ist wie eine Filmrolle auf eine Spule aufgewickelt und wird über einen vor dem Pult installierten Rekorder abgespielt.

Tonbandspulen spielten vor allem in den Anfangsjahren der DJ-Kultur eine wichtige Rolle. Das Band erlaubte erstmals den direkten Eingriff in die physische Materie des Klangs. DJs wie der New Yorker Walter Gibbons schnitten aus mehreren Aufnahmen von Disco-Stücken die tanzbarsten Stellen mit Rasierklingen heraus und klebten sie neu zusammen, um sogenannte Edits für den Clubeinsatz zu erstellen. Die Kunstform des Remix war geboren. Huckaby präsentiert an diesem Abend seine Edits von Stücken des 1993 verstorbenen Free-Jazz-Musikers Sun Ra. Sun Ras afrodiasporische Philosophien, die ägyptische Mythologie mit kosmologischen Zukunftsutopien verbanden und die Befreiung der unterdrückten schwarzen Weltbevölkerung durch Emigration ins All propagierten („Wenn wir auf der Erde keine Freiheit bekommen, dann eben im Weltall“) inspirierten vor allem die afroamerikanischen Techno- und Housepioniere in Chicago und Detroit. Sun Ras wilder Free Jazz wird von Huckaby in stringente Formen überführt, ohne die radikale Energie zu opfern. Aus dem hypnotischen Rhythmus brechen immer wieder ratternde Perkussionselemente, atonale Klavier- und Orgeltöne und befremdliche Störgeräusche aus. Das Publikum ist zunächst verunsichert, vielleicht aber auch nur erleichtert, endlich angekommen zu sein. Die Wartezeit in der Schlange beträgt locker eine Stunde, die Kapazitätsgrenze ist fast überschritten. Stefan Betge alias Pole, der den Abend mit Dub- und Rootsreggae geschmackssicher eingeleitet hat, zieht an seiner Zigarre. Tanzen, zuhören, gucken? Immer mehr Gäste entscheiden sich für Ersteres. Huckabys Set folgt einer ausgeklügelten Dramaturgie, auf fast hörspielartig-narrative Momente mit Ausschnitten aus „The Magic City“ oder „Space Is The Place“, dem Soundtrack des gleichnamigen Films von 1972, folgen Abschnitte, die nach dem rohen House eines Theo Parrish klingen, selbst ausgewiesener Sun-Ra-Verehrer. So schließt sich ein Kreis: Sun Ras dekonstruierte Klänge gehen völlig selbstverständlich im neuen, von ihnen selbst inspirierten Kontext der elektronischen Tanzmusik auf. Als hätte Jackson Pollock bei seinen Actionpaintings statt Farbe Schnipsel von Monet-Bildern verwandt.

So umschifft Huckaby die Klippen aus Techniknostalgie und Musealisierung, die bei Veranstaltungen dieser Art lauern. Die Reihenfolge seines Sets checkt er regelmäßig per iPhone. Dem fortschrittsorientierten Sun Ra hätte die Ironie dieser Geste gefallen. Sein Geist war jedenfalls deutlich zu spüren, irgendwo im weiten Raum zwischen alten und neuen Maschinen, den sich bewegenden Körpern und den sternschnuppenartig umherstreifenden Klängen. JULIAN JOCHMARING