Halbtags auf Trebe


„Nach zwölf Jahren ohne Wohnung und Arbeit eingestellt werden? Vergiss es!“

VON SIMON KARSTEN

Kurt (69) und Brunhilde (58) haben ihren Platz gefunden. Im Hauseingang eines geschlossenen Geschäfts an der Kölner Straße in Düsseldorf bringen beide auf Sitzkissen den Tag herum. Meistens bis kurz vor 20 Uhr, dann müssen sie zurück in eine betreute Wohneinrichtung der Caritas. Bei ihnen hat das landesweite Programm „Wohnungslosigkeit vermeiden – dauerhaftes Wohnen sichern“ gegriffen: Ihre Obdachlosigkeit konnte verhindert werden.

Vordergründig zeigt das Programm durchaus Wirkung. Nach Angaben des NRW-Sozialministeriums ist die Anzahl der Obdachlosen im Land seit Programmstart 1996 von 52.000 auf 18.500 im Jahr 2005 gesunken – ein Rückgang von sensationellen 64 Prozent. Zu den Schwerpunkten des Programms gehört die Einrichtung von zentralen Beratungsfachstellen. Diese Anlaufpunkte übernehmen etwa Mietschulden oder greifen direkt auf freien Wohnraum zurück. Das erspart den Obdachlosen den Gang zu weiteren Ämtern und verhindert den Verlust der Wohnung. Ein weiterer Aspekt des Programms ist die Neu-Erschließung von Wohnraum in den Kommunen; durch die entspannte Situation am Wohnungsmarkt in vielen Städten konnte auf diese Weise eine große Anzahl von Obdachlosen in die eigenen vier Wände vermittelt werden. Allerdings hat man im Zuge dessen auch die Zahl der kommunalen Notunterkünfte reduziert und in betreuten Wohnraum umgewandelt. Und das hat Auswirkungen auf die Obdachlosenstatistik.

„Diese Statistiken sind mit Vorsicht zu genießen“, sagt Jan Orlt von der Wohnungslosenhilfe der Diakonie Westfalen. Denn in der Statistik tauchen nur Personen auf, die bis zu einem bestimmten Stichtag ordnungsbehördlich erfasst, also in kommunalen Notunterkünften untergebracht sind. Sobald eine Einrichtung von Sozialarbeitern „betreut“ wird, sind die Bewohner nicht mehr als obdachlos registriert. „Ich wage nicht zu sagen, ob nicht ein Großteil der rückläufigen Zahlen über die Reduzierung der Notunterkünfte und deren Umwandlung in betreuten Wohnraum zu erklären ist“, meint Orlt. Ebenfalls in der Statistik nicht erfasst werden Personen, die sich in Haft, in Kliniken oder anderen Einrichtungen aufhalten, und diejenigen Extremfälle, die „auf Platte machen“, auf der Straße leben. „Diese Dunkelziffer kennt niemand“, sagt Jan Orlt.

Auch Brunhilde und Kurt werden in der Obdachlosenstatistik nicht erfasst, da die Caritas-Einrichtung offiziell als Betreuer auftritt. „Mein Freund hat sich letztes Jahr tot gesoffen, da musste ich aus unserer Wohnung raus, die war zu groß“, erzählt Brunhilde. Ein Betreuer vermittelte sie und wendete die drohende Wohnungslosigkeit ab. In der Einrichtung der Caritas bewohnt sie nun ein eigenes Zimmer, es gibt drei Mahlzeiten pro Tag und auch eine umfassende Betreuung. „Die halten mich da fest“, behauptet Kurt mit einem Augenzwinkern. „Die wollen mir nämlich mein Geld nicht geben.“ Tatsächlich bekommen beide ein Taschengeld von 20 Euro in der Woche, Kurts Rente wird zur Mitfinanzierung der Unterbringung einbehalten und auch Brunhildes Arbeitslosengeld II wird ihr nicht ausgezahlt. Dafür leben beide in vergleichsweise stabilen Verhältnissen, Brunhilde arbeitet sogar als 1-Euro-Jobberin: in der eigenen Einrichtung, sie putzt und macht die Wäsche für die anderen Bewohner. Und beide wissen auch, was die Betreuerschaft wert ist, garantiert sie doch ein halbwegs stabiles Lebensumfeld.

Mit dieser Einsicht indes sind beide eher Einzelfälle. Sie sind in der glücklichen Lage, dass sie nicht drogenabhängig sind und auch ihr Alkoholkonsum sich in Grenzen hält. Viele in der Obdachlosenszene sind suchtbedingt auf die Auszahlung von Sozialhilfe angewiesen, ein betreutes Wohnen, bei dem die Zuwendungen zur Mitfinanzierung von Kost und Logis einbehalten wird, kommt für sie nicht in Frage.

Sobald Obdachlose in betreuten Wohnungen leben, sind sie als solche nicht mehr registriert

Solche Härtefälle treffen sich am Düsseldorfer Hauptbahnhof – unter ihnen Dirk (42), arbeitslos und derzeit Bewohner eines Männerheims. „Die meisten hier haben eine Wohnung vom Sozialamt, die brauchen ihre Stütze für den Stoff“, erkärt Dirk und streicht sich die dünnen Haare aus der Stirn. In der rechten Hand hält er eine Bierflasche, in der Linken qualmt eine Selbstgedrehte.

„Flunies, Flunies!“ Ein Dealer macht die Runde. Flunies sind sogenannte „Downer“, sie helfen, „runter zu kommen“. Dirk selbst ist inzwischen clean. „Von dem ganz harten Zeug bin ich weg“, sagt er. Das ganz harte Zeug: Heroin. „Ich habe mit 27 angefangen zu drücken, da ging es schnell bergab.“ Erst war der Job weg, dann die Wohnung, schließlich die Freundin. Dirk landete auf der Straße, durch die Sucht verlor er 25 Kilo Körpergewicht und seine Zähne – alle bis auf einen. „Damals hatte ich kaum noch Kraft, auf jeden Fall zu wenig, um mich um eine Wohnung zu kümmern.“ Ein Süchtiger hat dafür keine Zeit, die Droge beherrscht den Tagesablauf. Zumeist sind es solche besonders schweren Fälle, die sich auf der Straße wiederfinden. Wer noch genügend Antrieb hat, kommt heute leichter als früher zu einer Wohnung.

Heute wohnt Dirk vorübergehend in einem betreuten Männerheim – und ist damit in der Obdachlosenstatistik von Nordrhein-Westfalen nicht mehr erfasst. In stabilen Verhältnissen lebt er allerdings nicht, eine Arbeit zu finden, hat er schon lange aufgegeben. „Mit 42 Jahren ist es schon schwer genug, und dann nach zwölf Jahren ohne Wohnung und Arbeit noch eingestellt werden? Vergiss es!“ Die meisten Arbeitgeber greifen lieber auf günstige Billigjobber aus stabileren Verhältnissen zurück. Für Menschen, die zu lange auf der Straße waren, ist ein Weg zurück auf den Arbeitsmarkt kaum drin. Die meisten haben sich bereits damit abgefunden, suchen Trost im Alkohol oder Drogenrausch. Und so wird Dirk auch weiterhin am Hauptbahnhof die Zeit totschlagen. „Ich gehören hier schon zum Inventar“, sagt er und lächelt müde.