Die Stellvertreterin

Karoline von Günderrode war eine attraktive Märtyrerin der deutschen Kunstreligion. Zwei Bücher widmen sich nun der Dichterin: Dagmar von Gersdorffs Biografie und die neu aufgelegte Werk-Ausgabe, die Christa Wolf herausgegeben hat

VON KATHARINA RUTSCHKY

Vor 200 Jahren, im Sommer 1806, meldete sich Karoline von Günderrode bei ihren Gastgebern zu einem Abendspaziergang ab und wurde, von eigener Hand erdolcht, am nächsten Morgen am Rheinufer tot gefunden. Sie war erst 26 Jahre alt, doch unter männlichem Pseudonym schon mehrfach als Dichterin hervorgetreten. Aber erst durch ihren Selbstmord wurde sie bekannt und erregte eine Anteilnahme, die heute in der Biografie von Dagmar von Gersdorff ihren vorläufigen Endpunkt erreicht hat.

Ehe Christa Wolf Ende der Siebzigerjahre in der damaligen DDR die Günderrode als ihre politische und feministische Wiedergängerin entdeckte, hatten Generationen von Romantikforschern sich ihres Lebens, ihrer Briefe und Hinterlassenschaften immer wieder angenommen. Zwar liegt inzwischen sogar eine philologische Edition ihrer Werke vor, aber auf ein wirkliches Interesse sind ihre Gedichte, Dramen und philosophischen Exkurse nicht gestoßen. Auch Christa Wolf, deren Auswahl von 1979 jetzt wieder vorliegt, räumt ein, dass von der Dichterin dem Leser heute allenfalls ihre Lyrik noch etwas sagen kann. Wenn Benn mit der Behauptung nicht irrt, dass ein Lyriker gerechtfertigt ist, dem ein halb Dutzend Gedichte in seinem Leben geglückt sind, dann müssten wir die Günderrode zu den Glücklichen zählen.

In die Geschichte eingegangen ist sie aber bisher als tragisches Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse: als Protagonistin der Kunst- und Kulturreligion, die an die Dichter delegiert, was immer Sache der politischen Öffentlichkeit gewesen wäre. In Deutschland – ganz im widersprüchlichen Einklang mit der Realgeschichte – lieben wir die gescheiterten, die verkannten, am meisten die Selbstmörder unter den Dichtern. In ihrer Erzählung „Kein Ort. Nirgends“ imaginierte Christa Wolf ein Zusammentreffen der Günderrode mit Kleist – auch er ein Selbstmörder. Ob die Günderrode nicht auch Hölderlin wenigstens gesehen hat, der neben ihrem Appartement in Frankfurt Hauslehrer war? Der beging zwar nicht Selbstmord, aber es gibt viele, die seine Psychose als radikalen Protest gegen die deutschen Verhältnisse verklärt haben.

Tatsache ist, dass eine hochbegabte junge Frau, der die Wirklichkeit zu dumm war, den Ausweg in den Tod suchte, um ihre maßlosen Ansprüche an das Leben und vor allem sich selbst zu retten. Das Scheitern einer Liebesgeschichte, die sie bestenfalls in eine Ehe geführt hätte, an der sie kein Interesse hatte, gab der Günderrode die begrüßte Lizenz zum Sterben.

Das Ineinander von Dichtertum, jugendlichem Hochmut und selbstmörderischer Beglaubigung hat Wolf damals in der DDR und jetzt ihre Biografin zu einer Identifikation verführt, die viel erzählt, aber nichts erklärt. Attraktiv ist die Günderrode als eine Märtyrerin der deutschen Kunstreligion, die das Bildungsbürgertum um 1800 erfunden hat und die bis heute, in die Grass-Debatte hinein, fortwirkt. In der bleiernen DDR ist Wolf damals dem Muster gefolgt. Knapp ließe sich ihre Günderrode-Befassung so übersetzen: Das Ideal des sozialistischen Kulturstaats lässt viel zu wünschen übrig – auf die Dichter (damals wurde Biermann ausgewiesen) hört man nicht … Als ob sie zur moralischen Statthalterschaft wie niemand anders prädestiniert wären.

Gersdorffs Biografie ergänzt das Scheitern der Günderrode durch Erklärungen, die aufs Gebiet der Sozialgeschichte und des modernen Feminismus führen. Wie herzlos von der Mutter, die 17-jährige Karoline im Frankfurter Frauenstift abzulegen! Anders als ihr Verehrer Clemens Brentano reiste sie nur in der Fantasie, absolvierte ihre philosophischen Studien privat. Natürlich beneidete die Günderrode, wie noch Generationen von Frauen nach ihr, die Männer und wäre gern selbst einer gewesen. Freunde und Freundinnen respektierten und bewunderten ihre intellektuellen Ambitionen und adressierten sie als Freund, als Frau mit einem männlichen Vornamen. Heißt das aber, dass sie eine Feministin war, wie hundert Jahre später Virginia Woolf, auch sie eine Selbstmörderin?

Ein Fehler von Gersdoffs Biografie ist es, die Kunstreligion zu unterschlagen und den Platz nicht zu beleuchten, den in ihr das verkannte, selbstmörderische Dichtertum auf Kosten des Dichters und der Kunst einnimmt. Aus den Werken wird nur als Beleg für Persönliches zitiert. Was die Günderrode aber bewogen hat, zum Beispiel ein Drama über Mahommed zu versuchen, erfahren wir nicht.

Ein anderer Fehler von Gersdorffs Biografie – auch Christa Wolf hat sich seiner schuldig gemacht – ist es, das jugendliche Alter der Günderrode und ihrer Mitspieler zu ignorieren. Karoline war 19, als sie auf den 20-jährigen Savigny traf – ihre erste große Liebe. Man könnte sagen: Alle wichtigen Beteiligten an ihrer Lebenstragödie waren Heranwachsende – wie berühmt später die Brentanos, Savigny oder Arnim auch noch werden sollten. Eine Biografie, die den modernen Feminismus in die Vergangenheit trägt, sollte wenigstens auch dem Moment der Jugend Rechnung tragen. „Recht viel wissen, recht viel lernen, und nur die Jugend nicht überleben.“ Das schrieb die Günderrode einmal. Wem fällt da nicht die Devise ein, die über dem Leben so vieler Popstars zwischen Janis Joplin und Kurt Cobain stand und steht: „Live fast and die young.“

Nüchtern betrachtet, jenseits der Märtyrer- und Prophetenrolle, die die Kunstreligion den Dichtern zuschreibt, hätte Karoline von Günderrode eigentlich gute Chancen für eine Karriere als Schriftstellerin gehabt. Vorbilder hatte sie auch vor Augen, in der älteren Sophie Laroche etwa, die sie persönlich kannte, oder in der wackeren Therese Huber, der ersten deutschen Journalistin. Schon wahr, dass sie erst mit 25 über ihr Vermögen verfügen konnte – aber sie hatte doch eins.

Christa Wolf in der DDR der Siebziger und nun wieder Gersdorff haben das Leben der Günderrode als ein Melodram aufgefasst, nach den Vorgaben einer feministisch polierten Kunstreligion. Eine Opfererzählung, die im Verkanntsein, im Wahnsinn oder gar Selbstmord des Dichters posthum eine tiefe politische und menschliche Wahrheit, eine Radikalität und Größe vermutet, für die wir Bürger nicht taugen und deshalb nach Stellvertretern hungern.

Dagmar von Gersdorff: „Die Erde ist mir Heimat nicht geworden. Das Leben der Karoline von Günderrode“. Insel Verlag, 250 S., 19,90 Euro Karoline von Günderrode: „Einstens lebt ich süßes Leben. Gedichte, Prosa, Briefe“. Hrsg. von Christa Wolf. Insel Taschenbuch, 407 S., 12 Euro