die taz vor zehn jahren über den einzug der taliban in afghanistans hauptstadt kabul
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Mit dem Einzug der Taliban in die afghanische Hauptstadt Kabul ist das Land militärisch zweigeteilt. Während die extrem-islamistische Bewegung den Süden beherrscht, hält der usbekische „Warlord“ Abdurraschid Dostam sieben Provinzen im Norden des Landes. Er ist der einzig verbliebene ernsthafte Gegner der Taliban. Zwischen beiden eingekeilt sind die Reste der Kabuler „Regierungstruppen“.

Den Taliban bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder beschränken sie sich auf das, was sie haben: jene zwei Drittel des Landes, wo die Paschtunen, ihre ethnische Hauptbasis, die Bevölkerungsmehrheit bilden, und überlassen Dostam den Norden mit den Minderheiten der Usbeken, Tadschiken und Turkmenen. In diesem Fall könnten beide Seiten verhandeln, oder auch nicht. Eine stillschweigende Übereinkunft, daß bestimmte Regionalherrscher mit weitgehender Autonomie von der „Zentralregierung“ geduldet werden und dafür auf die nominelle Loslösung verzichten, wäre nicht neu in der Geschichte Afghanistan. Die Taliban könnten aber auch versuchen, den gesamtafghanischen Herrschaftsanspruch der Paschtunen, die sich seit der Staatsgründung 1747 als das „Staatsvolk“ Afghanistans betrachten, militärisch umzusetzen. Das würde, nach einer wahrscheinlichen Atempause, eine neue Runde des Krieges bedeuten, gegen die der Kabul-Feldzug ein Kinderspiel gewesen wäre. Dazu bestünde die Gefahr, daß der innerafghanische Konflikt scharfe ethnische Konturen erhielte.

Die Position Dostams ist aber nicht nur militärischer Natur. In seinem Gebiet existiert, ohne daß Dostam das jemals so gesagt hätte, nun ein liberaler gesellschaftlicher Gegenentwurf zum Scharia-Staat der Taliban. Das könnte sich für viele Afghanen und mehr noch für die Afghaninnen auf lange Sicht als attraktiver erweisen als das rückwärtsgewandte Regime der Taliban.

Thomas Ruttig, taz vom 30. 9. 1996