Sarkozys heißer Herbst

RENTENREFORM Der Protest gegen die Politik des Präsidenten hat einen Höhepunkt erreicht. Schulen brennen, der Verkehr steht still

„Wir stehen vor einem Risiko der allgemeinen Radikalisierung“

FRANÇOIS BAYROU, OPPOSITIONSFÜHRER

VON DOMINIC JOHNSON

Brennende Autos in Lyon, Schülerblockaden in Paris, verwaiste Flughäfen und Bahnhöfe, tausende Tankstellen ohne Sprit und hunderttausende Demonstranten auf den Straßen: Die Protestwelle in Frankreich gegen die geplante Rentenreform des Präsidenten Nicolas Sarkozy hat am gestrigen Dienstag ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Generalstreikaufrufe wurden auf den Großdemonstrationen laut, die am Nachmittag zeitgleich an 266 verschiedenen Orten in Frankreich zusammen den bisherigen Demonstrationsrekord von 3,5 Millionen Menschen brechen sollten. Ob das gelang, war am frühen Abend noch unklar, auch wegen der extrem unterschiedlichen Angaben über Teilnehmerzahlen. So zählte die Polizei in Marseille 23.000 Demonstranten, die Gewerkschaften 240.000. Traditionellen zählen die Gewerkschaften auch alle Passanten auf Demonstrationsrouten mit.

Es war der sechste Protesttag in Folge gegen die extrem unpopulären Rentenreformpläne, bei der Frankreichs Regierung das Eintrittsalter in die Rente von 60 auf 62 und das Alter zum Bezug der vollen Rentenbezüge von 65 auf 67 Jahre erhöhen will. Beobachter konstatierten gestern, dass nicht nur viel mehr Jugendliche als anfangs demonstrieren, sondern auch viel mehr Rentner. Die Parolen auf den Protestveranstaltungen bleiben bewährt fantasiereich: „Für die Reichen goldene Eier, für die Armen wieder Nudeln“ – auf Französisch reimt sich das.

Aber mit jedem neuen Protesttag wächst die Gewaltbereitschaft. In Bellecour in Lyons Altstadt brannten gestern Autos, Mülltonnen, Bushaltestellen und anderes städtisches Mobiliar, Geschäfte wurden geplündert, und Tränengaswolken hingen auch lange nach Ende der Demonstration in der Luft. Demonstrierende Schüler warfen grüne Mülltonnen auf dem Pariser Place de la République herum und blockierten damit diesen zentralen Verkehrsknotenpunkt. Im Pariser Vorort Nanterre, symbolischer Ausgangspunkt der 1968er Revolte, ging die Polizei mit Gewalt gegen Randalierer vor. Im Südwesten von Paris musste eine 15-Jährige verletzt ins Krankenhaus gebracht werden, nachdem ein brennender Mülleimer ein Motorrad explodieren ließ. Am Nachmittag setzten die Ordner der kommunistischen Gewerkschaft CGT bei der Pariser Großdemonstration Tränengas gegen randalierende Jugendliche ein. In Nantes und Amiens wurden Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Elitepolizei CRS gemeldet.

Die Sorge der Gewerkschafter ist, dass gewaltbereite Jugendliche aus sozialen Brennpunkten die Proteste nutzen, um möglichst viel Chaos zu stiften, und damit dem Staat den Vorwand bieten, hart durchzugreifen und nebenbei jede Kompromissbereitschaft in der Rentenfrage zurückzuweisen. François Chérèque, Generalsekretär der Gewerkschaft CFDT, rief die Protestierenden dazu auf, keinerlei „Provokationen“ nachzugeben. Die gemäßigte Gewerkschaft CFE-CGC schlug vor, die Gewerkschaften sollten eine „Pause zur Reorientierung“ einschlagen.

„Die Situation ist so gefährlich wie seit Jahren nicht mehr“, erklärte der liberale Oppositionsführer François Bayrou. „Wir stehen vor einem Risiko der allgemeinen Radikalisierung.“

Von Frankreichs 83 Universitäten waren nach Gewerkschaftsangaben 10 blockiert und geschlossen, in 10 weiteren wurde „mobilisiert“, ebenso in 850 der 4.302 Oberschulen des Landes. Das Collège Val d’Huisne in Mans wurde in der Nacht zu Dienstag angezündet und brannte aus; Feuerwehrzufahrten waren vorher blockiert worden. Mehrere Bundesstaaten wurden durch im Schneckentempo fahrende Lastwagen blockiert.

Von Dialog und Kompromiss ist seitens der Regierung von Präsident Nicolas Sarkozy keine Rede mehr. Vermutlich in einer Woche findet die abschließende Abstimmung über die Rentenreform in der Nationalversammlung statt, nachdem der Senat am morgigen Donnerstag dafür stimmen wird und dann ein Vermittlungsausschuss die letzten Details regelt.

„Das Schlimmste wäre, nicht meine Pflicht zu tun und die Finanzierung der Renten nicht zu sichern“, erklärte Präsident Sarkozy gestern Mittag in Deauville nach einem Gipfeltreffen mit Deutschland und Russland. „In einer Demokratie kann sich jeder ausdrücken, aber er muss es ohne Gewalt tun.“ Er versprach Maßnahmen, „weil es Leute gibt, die arbeiten wollen und denen man das Benzin nicht vorenthalten darf“. In Deauville war derweil das Benzin ausgegangen.

Frankreichs Regierung verweist darauf, dass sogar unter den Staatsbediensteten nur eine Minderheit streikt, und betont die Notwendigkeit, gegenüber Gewalttätern nicht zurückzuweichen. Demgegenüber aber sympathisieren laut Umfragen rund 70 Prozent aller Franzosen mit den Streikenden.

Ob die Regierung sich ohne weitere Zugeständnisse durchsetzen kann, entscheidet sich zunächst wohl an der Treibstoffversorgungslage. Alle 12 Ölraffinerien Frankreichs sowie 20 der 219 Treibstoffdepots blieben auch gestern von Streikenden blockiert, rund ein Sechstel der Tankstellen des Landes waren trocken. Die um sich greifende Benzinknappheit, zusammen mit den Blitzstreiks im öffentlichen Verkehr, sind für den Alltag der Franzosen der direkteste Gradmesser der Krise.