Grauen auch ohne Tabubruch

24 Stunden in Auschwitz zeigt das niederländische Figurentheater „Hotel Modern“ bei der Fidena

Die Bühne bildet ein etwa zehn mal zehn Meter großes Konzentrationslager aus Pappe. Barracken, Wachtürme und Stacheldraht sind maßstabsgetreu nachgebaut. Die Häftlinge, dargestellt von fingerhohen, dürren Drahtgestellen, an denen das Drillich flatterte, haben Köpfe in der Form runzliger Kartoffeln. Große tiefe Augenhöhlen, vor Schrecken aufgerissene Münder – 3.000 Puppen sind es.

Bekannte Bilder auf einer Puppenbühne? Wie die Gleise durch das Torhaus hin zu den Rampen. Das Maschinengewehr, das den Häftling auf dem Paradeplatz ins Visier nimmt. Schuhe, Kleider, Koffer sortiert auf Haufen. Fast wie in den bekannten Dokumentarfilmen, wie in den Spielfilmen über den Holocaust? Doch sehen die Bilder in Bochum beim Figurentheater der Nation anders aus. Das KZ wurde im städtischen Museum eben als Puppenspiel gezeigt. Einen Tag und eine Nacht in Auschwitz stellt das Figurentheater „Hotel Modern“ aus den Niederlanden in ihrem Stück „Kamp“ dar.

Die wortlose Handlung wird von einer Webcam eingefangen und als zuweilen unscharfes, verwackeltes Schwarz-weiß-Bild auf eine Leinwand hinter die Bühne projiziert. Für das Publikum gut sichtbar arbeiten auf dem Areal ein Kameramann und zwei Puppenspielerinnen. Wie Riesen wirken sie neben den Modellbauten. So gibt es die Handlung immer doppelt. Einmal im Vordergrund als weit entfernte Miniatur, distanziert wirkend. Das Publikum schaut hier der Produktion eines Filmes zu. Dann als Bühnenbild im Hintergrund, ganz nah, das großformatige Kino, die Szenen des unvorstellbaren Grauens. Es sind meist kurze Sequenzen: Die Essensausgabe. Klatzende Löffel an der Blechschüssel. Eine Exekution. Der Tod eines Verzweifelten im elektrischen Stacheldrahtzaun. Manchmal lassen sich die Puppenspieler mehr Zeit. Bei Zwangsarbeit bricht ein Häftling zusammen. Minutenlang drischt ein Aufseher auf ihn ein.

Kein Puppenblut fließt. Nur dumpfe Schläge sind zu hören. Furchtbar lange dauert es, bis die eine Puppe regungslos im Sand liegen bleibt, die andere von ihr lässt. Wie die Schläge des SS-Mannes dröhnt auch der Güterzug. In einer langen Reihe marschieren die Deportierten zur Gaskammer. Noch sind sie als Individuen zu erkennen. Kleider, Anzüge, Hüte, Taschen. Dann aber nackt, werden sie zur Masse. Ihre Puppennacktheit, Draht umhüllt mit klarem Silikon, lassen sie wie durchsichtige, fast strahlende Wesen erscheinen. Das Knirschen der zur Seite geschobenen Steinplatte, das Zischen von dem in die Gaskammer geschütteten Zyklon B., der Klang des Massenmordes erfüllt den Zuschauerraum. Die Kamera folgt den Opfern sogar in die Gaskammer. Den Moment des Sterbens erspart sie dem Publikum. Zitternde Bilder, Blende, dann Dunkelheit.

Aber warum müssen Puppen die bekannten Szenen nachspielen? Der Veranstalter hatte einen Tabubruch angekündigt. Doch der fand nicht statt. Kein Skandal war bei der deutschen Erstaufführung in Sicht. Statt der geplanten anschließenden Diskussion verließ das Publikum nach einem zögerlichen Schluss-Applaus den Saal schweigend und sichtlich betroffen. Niemand behauptete, dass nun Auschwitz als Muppet-Show verhöhnt wurde. Zu eindringlich und ernst war die Gestaltung. Und den Puppen gelang, was manch menschlichem Darsteller verwehrt bleibt. Sie waren so nah wie bisweilen nur Spielzeuge von Kindern für Kinder nah sein können. Diese Darstellung des Massenmordes öffnet einen neuen, individuellen und sehr emotionalen Zugang zum Thema, auch ohne Tabubruch. LUTZ DEBUS

Infos: www.fidena.de