AM BAHNHOF ZOO
: Direkt vor mir

Die Absätze sind schon ganz abgelaufen

Plötzlich hatte ich blonde Haare im Gesicht. Die Augen, das Lächeln und die makellose Haut einer vielleicht 20-Jährigen. Ganz nah dran, direkt vor mir. „Hallo! Ich bin die Lena und wer bist du?“, riefen Haare, Augen und Gesicht. Mann, fühlte ich mich alt in diesem Moment.

Es war schon lange her, dass ich selbst einen dieser Promo-Jobs gemacht hatte, in denen man seine Jugend zu Geld macht und im Sekundentakt fremde Menschen anquatscht, bis man keine Schmerzgrenze mehr kennt. War ich den Leuten auch so ins Gesicht gesprungen? Bestimmt. Und ich hatte noch viel, viel schlimmere Sachen gemacht als Lena. Sie stand immerhin für die Malteser vor dem Bahnhof Zoo. Ich hatte meine Unschuld für Burger King hergegeben.

Inzwischen bin ich zu alt für so was. Niemand würde mehr meine müde Fresse bezahlen, wie sie versucht, Leute vom Elend der Tiere oder von der Einzigartigkeit eines Telefonanbieters zu überzeugen. Ich winkte Lena freundlich ab, dass ich pleite und obendrein fürchterlich müde sei.

Immerhin konnte ich nach diesem Alptraum die U9 zum Zoo nehmen und, nachdem ich mir von Malteser-Lena meinen körperlichen Verfall ins Gesicht hatte reiben lassen, die Pressevorführung von Tom Tykwers neuem Film „Drei“ im Delphi ansehen.

Noch ganz verliebt in Sophie Rois marschierte ich zurück durch den Tiergarten, am Hansaplatz vorbei und am Café Buchwald Richtung Wedding, um spazierend auf eine Kurzstrecke zu sparen. „Hrm!“, machte es hinter mir. Eine Dame mit Hut und Mantel. „Entschuldigen Sie, Ihre Schuhe!“ Panikartig hob ich die Hacken, um meine Lieblingsstiefel auf Hundekot zu untersuchen. „Sie müssen neue Absätze machen lassen“, fuhr die Dame mit Hut tadelnd fort, „die sind schon ganz abgelaufen.“

KIRSTEN REINHARDT