Affären und andere Drogen

Was glotzt ihr so verständnisvoll? Der Schriftsteller Philippe Djian hat mit „Die Frühreifen“ einen schonungslosen und komischen Roman über den Krieg zwischen den Generationen geschrieben

Houellebecq und Beigbeder verweist Dijan lässig in die Schranken: Sein Roman hat keine These, sondern Drive

von KOLJA MENSING

Es ist das Paradies auf Erden. Eine Handvoll Produzenten, Künstler und Musiker haben sich über die Jahre hinweg auf dem üppig bewachsenen Hügel vor Lausanne angesiedelt. An lauen Sommerabenden erholen sie sich hier in ihren gepflegten Gärten und Villen mit einem Daiquiri in der Hand von ihrem anstrengenden Leben als Celebrities und plaudern angeregt über die letzte Begegnung mit Mick Jagger oder über die „phantastisch kleine Handtasche“, die „Sarah Jessica Parker in der letzten Saison über der Schulter hängen hatte“.

Auf den ersten Blick beschreibt Philippe Djian in seinem neuen Roman „Die Frühreifen“ eine nahezu perfekte High-Society-Idylle. Doch der Schein trügt natürlich. Zumindest für den Schriftsteller Richard Trendel und seine Frau, die Schauspielerin Laure, sind die glitzernden Oberflächen ihrer Welt längst stumpf geworden. Seit ihre 17-jährige Tochter Lisa bei einem Bootsunfall auf einem der benachbarten Seen ums Leben gekommen ist, geben sich die beiden hemmungslos der Verzweiflung über ihr „frustrierendes Leben hin, das sie mit jedem Tag tiefer in den Abgrund reißt“, und stürzen sich in erniedrigende Affären und zerfleischenden Selbsthass.

Lisas jüngerer Bruder Evy hat sich dagegen überraschend schnell mit der Leere abgefunden, die der Tod seiner inzestuös verehrten Schwester in seinem Leben hinterlassen hat, und entzieht sich der neuerlich erwachten Fürsorge seiner Eltern durch konsequenten Drogenmissbrauch. Amphetamine und Angel Dust, flüssiges Ecstasy, hochdosiertes Ritalin und Zoloft – er und seine deutlich minderjährigen Mitschüler werfen so ziemlich alles ein, was der Dealer ihres Vertrauens beziehungsweise die gut sortierten Hausapotheken der Eltern zu bieten zu haben. These kids are not alright. Es dauert darum auch nicht lange, bis der nächste von ihnen zu Tode kommt. Patrick, der Freund der verstorbenen Lisa, stürzt sich von einer Brücke, bis an den Anschlag abgefüllt mit dem Antidepressivum Dexorat.

Das exzessive Vertrauen in die breite Palette der chemischen Hilfsmittel und bewusstseinserweiternden Substanzen ist das Einzige, was die Jungen und die Alten auf dem Hügel der Reichen und Schönen noch eint. Während die Erwachsenen verständnislos den Kopf über ihre todessehnsüchtigen „Blagen“ schütteln, „die alle auf die oder andere Art durchgeknallt“ sind, wenden sich die Kinder voller Verachtung von ihren selbstverliebten und ach so toleranten Eltern ab, die mit ihren vermeintlich liberalen Lebensentwürfen nicht mehr erreicht haben als Depressionen, konstante Ehekrisen und Daueraufenthalte in privaten Drogenkliniken.

Späte Einsichten helfen da auch nicht mehr. „Wir müssen dafür sorgen, dass noch ein kleiner Funke Menschlichkeit in uns erhalten bleibt. Wir sind doch keine Tiere“, beschwört Laure ihren entnervten Sohn Evy in einem ihrer seltenen mütterlichen Momente. Besonders überzeugend wirkt sie allerdings nicht – vor allem nicht, nachdem Evy gehört hat, wie sie ihrer besten Freundin am Telefon den karrierefördernden Analverkehr mit einem Viagra-gedopten Produzenten gebeichtet hat: „War diese Frau, seine Mutter, eigentlich noch ganz bei Trost?“

Die am Anfang aufgeworfene Frage nach den seltsamen Umständen von Lisas Tod – ihr Bruder Evy war der einzige Zeuge des vermeintlichen Unfalls – tritt so auch schnell in den Hintergrund. „Die Frühreifen“ ist kein Psychothriller und kein Suspense-Roman, sondern ein schonungsloser, sprachlich expliziter und stellenweise unverschämt komischer Bericht aus dem Stellungskrieg zwischen den ewig jungen Eltern von Achtundsechzig/Folgende und ihren abgeklärten Kindern. Und das ist tatsächlich eine Überraschung: Nachdem sich Philippe Djian, der Punkrocker unter den französischen Autoren, in den letzten zwanzig Jahren von seiner Hardcore-Liebesgeschichte „Betty Blue“ über versoffene Scheidungsdramen wie „Rückgrat“ bis hin zu dem literarisch aufgerüsteten Porno „Schwarze Tage, weiße Nächte“ durch so ziemlich alle Schattierungen der menschlichen Tragödie hindurchgearbeitet hat, legt er nun ausgerechnet einen trendbewussten Generationenroman vor!

Aber Djian macht es eben auf seine eigene Art – und verweist jüngere Kollegen wie Michel Houellebecq und Frédéric Beigbeder mit ihren artifiziellen Zeitgeistprodukten und Feuilleton-Pamphleten äußerst lässig auf ihre Plätze. „Die Frühreifen“ hat keine These, sondern Drive, Djian will nicht provozieren, sondern unterhalten, und wer keine Angst davor hat zu erfahren, warum sich romantisch veranlagte Teenager heutzutage vor einem Date eine Handvoll Glasscherben in die Unterhose schütten, für den ist dieser Roman genau das Richtige.

Philippe Djian: „Die Frühreifen“. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Diogenes Verlag, Zürich 2006, 390 Seiten, 21,90 Euro