Denken! Tanzen! Lieben!

Was die Welt seit den Achtzigern im Innersten zusammenhät: Dietmar Dath lässt seine Figuren über das Leben nachdenken und mixt dabei Literatur und theoretische Physik – der Roman „Dirac“

VON ULRIKE MEITZNER

Es gibt Computerprogramme, die so komplexe Ergebnisse hervorbringen, dass sie sich mit keiner Gleichung vorausberechnen lassen. In manchen Fällen ist die Dynamik des Ablaufs sogar mit nichts beschreibbar, was einfacher wäre als das Programm selbst. Das ist der Fall bei komplexen Lebensvorgängen – und der Kunst. Denn wenn man den Gehalt eines Romans in einer Zusammenfassung exakt erfassen könnte, wäre er keine Literatur mehr. Genau diese Irreduzibilität macht manche Texte anstrengend, andere liebt man dafür, dass es keinen kürzeren Weg zur letzten Seite gibt.

Dietmar Daths Roman „Dirac“ gehört zur letzten Sorte. Dath verlangt seinen LeserInnen einiges ab: zum Beispiel die Auseinandersetzung mit einem ebensolchen Programm, das einer der Protagonisten bearbeitet und das sich am Ende als ein Spiel, eine Allegorie erweist. Und die Bereitschaft, sich für Leben und Werk Paul Diracs (1902–1984) zu interessieren, des theoretischen Physikers und Nobelpreisträgers, der anders als Heisenberg, Bohr, Einstein oder Oppenheimer niemals eine öffentlich bekannte Figur geworden ist.

Den Werdegang Diracs, der en passant die Entwicklung der Quantenphysik im 20. Jahrhundert skizziert, ist eine von mehreren Erzählebenen im Roman. Außerdem geht es um David, Paul, Johanna, Christoph, Sonja und Candela, Freunde Mitte ereißig, die sich seit ihrer Schulzeit in den 80er-Jahren kennen. Wer Daths vorausgegangenen Roman „Die salzweißen Augen“ gelesen hat, wird sie alle wiedererkennen. Auch David Dalek taucht wieder auf, schon Erzähler des Vorgängerbuchs und wie der Autor Redakteur bei einer großen Tageszeitung (Dath ist bei der FAZ) mit gegenkultureller Vergangenheit (Dath war Chefredakteur der Spex). So lassen sich die Unterschiede zwischen Autor und Erzähler nur mit einer gewissen Unschärfe erfassen, sozusagen durch einen dunklen Spiegel – gegen Ende fällt, als im Roman die Erzählebenen kollabieren, tatsächlich der Himmel in getönten Scherben herunter; dahinter sind die Sterne zu sehen.

Die Doppelung gibt dem Roman einen Extra-Spin, eine weitere Dath’sche Schleife. Auf einmal ist man mitten in Dath-Daleks Work-in-progress und liest die Ratschläge der Freunde: „Man erwartet, lass dir das sagen, in unseren äh Kreisen … etwas Unmittelbares von dir. Du könntest zum Beispiel diese Klatschebene ausbauen … Schreib darüber, was dich an Dirac interessiert, wie du dazu kommst, ruhig mit ein paar längeren halbdokumentarischen Einsprengseln …“ Oder: „die gefahr der gegenwartskiste ist natürlich, dass du erfahrungsliteratur baust statt gedankentext … wie direkt bei den realisten geklaut, so eine kuschlige ranschmeiße an die reporter aus dem schwingungsleben der pop-gegenwart, david goes goetz.“

Das ist purer Dath-Sound: präzise, unterhaltsam, informiert und geradezu brillant im Wiedergeben von gesprochener Sprache. Es ist ja auch ein brillanter Haufen, über den er schreibt, vor allem das Kerntrio David, Paul und Johanna. Die Gewandtheit von deren Sprache und Denken ist allerdings auch eine Kompensation: Alle drei versuchen zu verstehen, was mit ihnen und der Welt passiert ist, seit den 80er-Jahren. „David kämpft mit seinen hang-ups, wie wir alle … wir waren ja alle linksradikal, ganz scharfer Rettich, und jetzt haben wir das nicht mal für Geld und Ruhm eingetauscht, sondern einfach keine Zeit mehr, weil wir uns irgendwie durchwursteln müssen.“

Der Zusammenbruch linker Utopien ist nur der äußere Rahmen für die innere Katastrophe. Jeder der Protagonisten steckt in seiner eigenen Geschichte, der Prägung durch kaputte Familienstrukturen, alkoholkranke Väter, schwache Mütter, stumpf-autoritäre Lehrer. Und Intellekt, der sich als Abwehr ausbildet, sehnt sich irgendwann nach nichts mehr, als die Diskurs- und Distinktionsmaschine endlich mal abzustellen. Genau darum geht es in „Dirac“. Dem intellektuell-analytischen Spiel der Freunde werden zwei alternative Erkenntnismodelle entgegengesetzt: das reine, nicht-instrumentalisierte Denken und, altmodisch gesagt, die Herzensbildung, die docta ignorantia.

So spinnen sich Verbindungsfäden zwischen Diracs Leben, über das David Dalek schreibt, und dem Leben der Freunde, über das er ebenfalls schreibt. Denn Dirac steht für ein Denken, das die Erkenntnis aushält, dass alle Erkenntnis vorläufig ist, nichts sich festnageln lässt, als Ideologie sicher herumtragen oder chic verwursten. „Er wollte kein Gott werden … Die vorab gewusste, offenbarte Wahrheit: Darauf müssen wir verzichten.“

Die emotionale Seite der Erkenntnis kommt auf der anderen Seite der Handlung vor, Pauls Freundin Nicole verkörpert sie. Die Schulpsychiatrie diagnostiziert ihr leichten Autismus, die Freunde sehen – jedenfalls am Anfang – ihre unverstellte Wahrnehmung, den unmittelbaren Zugang zum Gefühl. In einer Schlüsselstelle tanzen Paul und Nicole zu einem unmöglichen Song, „Dreamer“ von Supertramp: „Dann nimmt sie ihn bei den Händen, und sie hüpfen zu einer Musik, die er eigentlich das absolut Allerletzte findet, wie zwei kleine verzückte Gummi-Enten ungelenk und eifrig durch die Wohnung … bis sie komplett verausgabt auf den Teppich im Flur sinken und lachen, keuchen, atmen.“ Leben heißt, die Distinktionsmaschine abschalten.

Dirac und Nicole, die beiden Pole der Erkenntnis, sind im Roman durch eine Scharnierfigur verbunden, die schließlich, im umgekehrten Urknall, die Erzählebenen ineinanderstürzen lässt. Der Roman bekommt fantastische Züge. Das irritiert zunächst beim Lesen, bis der Groschen fällt: Abgeschlossene, kontrollierbare Prozesse gibt es weder in der Physik noch in der Literatur. Ein Rest bleibt, der sich nicht auflösen lässt, irreduzibel hartnäckig.

Dietmar Dath: „Dirac“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006. 383 Seiten, 19,90 Euro