Blick auf die Jungs

Jungen haben andere Bedürfnisse im Unterricht als Mädchen. An der Gesamtschule Hagen-Eilpe gehen Pädagogen darauf ein

„Wir haben gemerkt, dass wir im Unterricht auch etwas für die Jungen und ihre Bedürfnisse tun müssen“

VON GESA SCHÖLGENS

Klaas hat große Probleme im Unterricht. Er kann sich schlecht konzentrieren. Er stört seine Mitschüler. Der Fünftklässler besucht eine Jungenfördergruppe der Gesamtschule Hagen-Eilpe. Bei Sozialpädagogin Christina Jeromin macht er heute Vertrauensübungen. „Die Jungen sollen lernen, die Grenzen der anderen zu akzeptieren und mehr Rücksicht zu nehmen.“ Das sieht so aus: Klaas’ Kumpel macht sich steif wie ein Brett und lässt sich fallen – so weit, wie er sich traut. Klaas muss ihn behutsam auffangen. „Solche Übungen fallen ihnen leichter, wenn keine Mädchen dabei sind“, sagt Jeromin.

Die Gesamtschule Hagen-Eilpe legt viel Wert auf den kleinen Unterschied: Geschlechterbewusster Unterricht ist hier Alltag– die reflexive Koedukation.

Hagen ist seit Anfang der 90er dabei. Bis 1994 nahm die Schule an einem dreijährigen Modellversuch der Bund-Länder-Kommission teil. Heute ist das Konzept zum festen Bestandteil der Sekundarstufe I geworden. Es hat sich bewährt, sagen Schulleiter Jürgen Eckervogt und Mitinitiatorin Hildegard Rühling-Blomert. Zunächst war das Projekt nur auf die Mädchenförderung ausgelegt. „Wir haben gemerkt, dass wir auch was für die Bedürfnisse der Jungen tun müssen“, sagt Rühling-Blomert, Lehramtsdozentin an der Uni Duisburg.

Insbesondere seit der Pisa-Studie gelten Jungen als Verlierer des Schulsystems. Sie sind aggressiver, haben schlechtere Noten, brechen die Schule häufiger ab. Die Zahl der männlichen Abiturienten sinkt, mehr Jungen landen auf Haupt- und Sonderschulen. Mädchen haben es freilich in mancher Hinsicht leichter. Bei gleichen Leistungen werden sie oft besser benotet – weil sie sich mehr anpassen.

Eine phasenweise Trennung im Unterricht, mehr Rücksichtnahme auf geschlechtsspezifische Unterschiede und geeignete männliche Vorbilder könnten nach Ansicht von Bildungsexperten die Defizite beheben und Rollenklischees abmildern. „Eine vorübergehende Trennung ist manchmal sinnvoll, wenn die Kinder es wollen. Etwa im Sportunterricht, bei der sexuellen Aufklärung oder der Berufsorientierung“, sagt Hannelore Faulstich-Wieland, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Uni Hamburg, die Mitte der 90er den Begriff reflexive Koedukation mit geprägt hat. Im getrennten Unterricht könnten die Lehrkräfte explizit Bezug auf die Genderfrage nehmen. „Ob das sinnvoll ist, hängt immer von der Zusammensetzung der Gruppe ab.“

In der Pubertät sind Jungen und Mädchen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen. „Das kann dazu führen, dass das andere Geschlecht negativ bewertet wird“, sagt Rühling-Blomert. Beide Seiten machen sich übereinander lustig oder sind gehemmt. „Dies alles stört das Lernen. Viele Schulprobleme rühren daher.“ Deswegen Phasen nötig, in denen vor allem Jungen angstfrei über ihre Probleme und Gefühle reden können.

Im Deutschunterricht ist heute Partnerarbeit dran. Olivia zieht einen Zettel mit Namen aus einem Kästchen. Die 11-Jährige liest und mault: „Kann ich noch mal ziehen?“ Auch Arbeitspartner Jan verzieht das Gesicht. Doch kaum sitzen die beiden nebeneinander, herrscht Ruhe. Gemeinsam lesen sie eine Fabel, ohne zu streiten. Hinterher fragt Lehrerin Gabriele Keil-Haack: „Wisst ihr, warum Jungen und Mädchen zusammenarbeiten sollen?“ „Damit wir uns besser kennen lernen“, meint Jan.

Auch in Niedersachsen hat es in den vergangenen Jahren Modellversuche an Schulen gegeben. Karola Nacken vom Pädagogikinstitut an der Universität Oldenburg hat von 1997 bis 2000 an drei Schulen einen Versuch wissenschaftlich begleitet. Dabei gab es einige Konflikte. „Die Lehrer müssen zu Beginn ihre eigene Geschlechterrolle reflektieren. Das fällt nicht immer leicht.“ Die Pädagogen beschäftigen sich zudem mit ihrer eigenen Körperhaltung und Sprache. „Wenn eine Lehrerin ängstlich wirkt, aber ihrer Klasse erzählt, Frauen müssten stark und selbstbewusst sein, ist das ein Widerspruch.“

Wie in Hagen gab es geschlechtsuntypische Arbeitsgemeinschaften, etwa Kochen für Jungs, sowie getrennte Räume, in denen Gesprächsrunden und Körperarbeit angeboten wurden. Auch hier spielt die Sprache eine wichtige Rolle. „Zum Beispiel bei empathischen Übungen: Jungen assoziieren nichtaggressive Berührungen schon ganz früh mit ‚schwul sein‘. Das ist für sie negativ.“ Wird eine Massage „Pizzabacken auf dem Rücken“ genannt, nehmen sie es viel eher an.

Um typisches Rollenverhalten zu verhindern, werden männlich dominierte Schulfächer wie Informatik und Technik in einigen Jahrgängen getrennt angeboten. „Die Jungs setzen sich sonst sofort an den Computer, und die Mädchen stehen nur dahinter und staunen“, so Nacken. Denn Jungen neigen zur Selbstüberschätzung und trauen sich nicht zuzugeben, dass sie Dinge, die vermeintlich von jungen Männern erwartet werden, nicht können. Würden die Geschlechter später wieder zusammengeführt, gebe es weniger Unterschiede. „Auch Eltern erzählen von Veränderungen: Plötzlich räumt der Sohn den Tisch ab“, sagt Nacken.

Reflexive Koedukation setzt voraus, dass die Pädagogen ihre „Gender-Brille“ jederzeit tragen: „Sie brauchen einen sensiblen, geschulten Blick und müssen sich klar machen, was sie tun“, sagt Faulstich-Wieland. In Hagen sind für jede Klasse eine männliche und eine weibliche Lehrkraft zuständig. „So gibt es für beide Geschlechter Ansprechpartner, die ihre Schüler über sechs Jahre begleiten“, sagt Eckervogt. Den Beteiligten ist das Konzept im Laufe der Jahre in Fleisch und Blut übergegangen. „Eine Voraussetzung ist engagiertes Personal“, so Eckervogt.

An der Grundschule Huntlosen in Niedersachsen überdauerte die reflexive Koedukation den Modellversuch mit der Uni Oldenburg nicht lange. „Unsere Arbeit hat keine Anerkennung bekommen“, sagt Lehrer Jens Illgen. Von der Landesregierung habe es danach keine Unterstützung gegeben. Viele Eltern seien misstrauisch gewesen, trotz intensiver Elternarbeit. „Manche fühlten sich sogar persönlich angegriffen. Sie dachten, wir wollten aus Jungen kleine Mädchen machen.“ An der Gesamtschule Hamburg-Bergedorf nahmen die bei den SchülerInnen beliebten Jungen-/Mädchen-Projekttage ein jähes Ende, weil Interesse und Engagement in der Schulleitung und im männlichen Kollegium fehlten, erzählt Lehrerin Regina Malz-Teske.

Strenge Vorgaben wie zentrale Prüfungen machen es den Schulen zudem schwer, an den Konzepten festzuhalten. „Uns fehlt einfach Zeit“, sagt Eckervogt. Leider hätten in der heutigen Bildungslandschaft Leistung und Qualitätssicherung einen höheren Stellenwert als der Blick auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Jungen und Mädchen.