Mein Leben ohne Zäune

GEMEINSCHAFT Alle stinken gleich im Kibbuz – dafür gibt jeder, was er kann, und kriegt, was er braucht. Am Donnerstag wird die Bewegung 100 Jahre alt. Doch die Individualisierung ist nicht zu stoppen. Ein persönlicher Rückblick

Das Jubiläum: Am 28. Oktober wird die Kibbuz-Bewegung einhundert Jahre alt. 1910 gründeten russische Migranten am See Genezareth den ersten Kibbuz, Degania A, weitere folgten. Kibbuz ist das hebräische Wort für Versammlung. Knapp 120.000 Menschen leben in 268 Kibbuzim. Nach der Staatsgründung spielten Kibbuzim eine zentrale Rolle bei der Besiedelung und Verteidigung Israels.

AUS HAREL SUSANNE KNAUL

Du hast die Nummer 42“, sagt Wäschefrau Aviva und malt mit dickem Rotstift meine Zahl auf einen Beutel. Jedes Kleidungsstück muss markiert werden, in der Gemeinschaftswäscherei soll nichts verlorengehen. Im Herbst 1994 lande ich von der Stadt ermüdet im Kibbuz Harel. Der liegt zwischen Tel Aviv, Jerusalem und Gaza, verkehrsgünstig – und gleichzeitig weit ab von Staus, Luftverschmutzung und Terroranschlägen. Ich wohne zur Miete, auch ohne Mitglied zu sein, habe nur den Touristenstatus. Aber durch den Weggang junger Leute steht viel Wohnraum frei. Eineinhalb Zimmer, Kochnische und Duschbad kosten knapp 300 Dollar, Wäschewaschen, Poolnutzung und Abendessen inbegriffen. Das Schönste an allem ist der Garten, endlos, denn im Kibbuz gibt’s keine Zäune, damals jedenfalls noch nicht. 100 Jahre alt wird die Kibbuzbewegung in diesem Monat. Fünfzehn davon habe ich miterlebt.

An der Nummer, die aus dem Kragen guckt, erkennt man einen Kibbuznik. Die Nummer steht für den Anfang vom Untergang, für den ersten Schritt zur Privatisierung. Zu Beginn hatten die Mitglieder noch nicht einmal ihre eigene Kleidung. Eigentum war verpönt und doch ging es auf Dauer nicht ohne. Die Mitgliederversammlung, höchstes Gremium des Kollektivs, entschied in kleinen Schritten gegen das Prinzip „alles für alle“. Erst gab es Marken für Zigaretten und Schokolade, ein kleines Taschengeld. Dann kamen Telefonleitungen und einen eigener Fernsehapparat für jede Familie. Aus ist es seither mit den gemeinsamen Abenden bei Nachrichten und Spielfilm im Speisesaal.

Als ich zum Kibbuz stoße, arbeitet noch gut die Hälfte der Mitglieder dort, auf den Gurken- und Melonenplantagen, den Baumwollfeldern, bei den Hühnern, Schafen, in der Verwaltung, in der Küche und den Kinderhäusern. Die Mitgliederversammlung entscheidet, wem welche Arbeit zugeteilt wird, wer eine Ausbildung macht, wann Urlaub dran ist, welche Reise aus der Gemeinschaftskasse bezahlt wird. Das Kollektiv ersetzt das Individuum. Noch galt das Prinzip: Jeder gibt, was er kann, und kriegt, was er braucht.

Mein Junge ist gerade zehn Wochen alt, als ihn das Babyhaus in Empfang nimmt. Damit ist er im Vergleich zur während der Gründerzeit üblichen Praxis schon alt. Eine Woche nach ihrer Geburt mussten sich die Neugeborenen von ihren Müttern trennen und verbrachten sogar die Nächte in kollektiver Betreuung. Als die ersten Kinderhaus-geschädigten Kinder groß genug sind, um sich zu beschweren, werden die gemeinschaftlichen Schlafräume abgeschafft. Tagsüber werden die Knirpse nach sozialistischer Manier in Bollerwagen durch die Grünanlagen kutschiert und finden es meistens prima. Für Kinder und alte Leute ist der Kibbuz ein Paradies.

Das Schönste an allem ist der Garten, endlos, denn im Kibbuz gibt’s keine Zäune, damals jedenfalls noch nicht

„Die Kibbuzim stinken alle gleich“, murrt Chagai, ein Freund, der im Kibbuz aufgewachsen ist und bis heute nicht versteht, wie sich jemand freiwillig für das Leben bei den Kollektivisten entscheidet. Der „Gestank“, eine Mischung aus Chlor und aufgewärmtem Essen, rührt vom Speisesaal, der in jedem Kibbuz gleich riecht und gleich aussieht: Waschbecken, schwarzes Brett, Briefkästen. Tische aus Pressspanplatten und Eisenbeinen mit passenden Stühlen. Sozialistischer Charme.

Seit dem Börsensturz vor 30 Jahren, der die spekulierenden Kommunisten in die Knie zwang, ist mein Kibbuz Harel wie die meisten anderen schwer verschuldet. Trotzdem wird großzügig getafelt. Die Zeiten, in denen Saft und Cola wie Wasser aus den Hähnen sprudelten, sind zwar vorbei, doch die Kibbuzniks lassen es sich gutgehen, laden auf, was ihre Tabletts tragen, und vertilgen nur einen Bruchteil davon. Wo immer es nicht den eigenen Geldbeutel trifft, ist Sparen kein Thema. Erst als die Wäscherei per Kilo abgerechnet und Stromzähler montiert werden, geht der Verbrauch dramatisch zurück. Nur Wasser ist noch so gut wie umsonst. Nirgends in Israel ist der Rasen grüner als im Kibbuz.

Seit drei Jahren bekommen die Kibbuzniks ein gestaffeltes Gehalt, das sich nicht länger an Bedürfnissen orientiert, sondern an den Leistungen. Der letzte Schritt der Privatisierung ist die Überschreibung der Häuser in den Besitz ihrer Bewohner. Die bisher vermieteten Wohnungen gehen an die jüngere Generation oder an einkommensstarke Familien, die sich zum Vorzugspreis in den Kibbuz einkaufen. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Mit meinem Touristenstatus kann ich an der großzügigen Verteilung von staatseigenem Land nicht teilhaben, deshalb wird mein Mietvertrag nicht verlängert. Während ich die Umzugskisten packe, lassen sich meine neuen Nachbarn den Garten umgraben. Zwei thailändische Arbeiter übernehmen den Job. Wenn sie mit dem Graben fertig sind, bauen sie noch einen Zaun.