Der Ehrgeiz des Kükens

Annabel Breuer sorgt bei der Fecht-Weltmeisterschaft in Turin für Furore. Sie ist 13 Jahre alt und kämpft im Rollstuhl

BERLIN/TURIN taz ■ Im Oval Lingotto, der Turiner Eisschnelllaufhalle, zieht Annabel Breuer die Maske vor ihr Gesicht und fixiert mit ihren Augen die Gegnerin. Die ist jetzt „der Feind“, wie Annabel sagt. Sie hat sich mit dem Florett vorgekämpft bis ins Halbfinale der Weltmeisterschaft der Rollstuhlfechter. Doch alle Wutprojektion auf Sylvie Magnat hilft nicht. Die französische Weltranglistenzweite ist an diesem Tag eine Nummer zu groß: 15:4 – eine klare Angelegenheit.

Jubeln darf Annabel am Ende trotzdem. Die unterlegenen Halbfinalisten bekommen im Fechten beide eine Bronzemedaille. Es ist bereits Annabels fünfte bei internationalen Großereignissen. Bei der EM in Madrid vor zehn Monaten landete sie sowohl mit der Mannschaft als auch im Einzel auf Rang drei – mit dem Degen wie mit dem Florett. Das Besondere dabei: Annabel ist erst 13 Jahre und ficht bei den Erwachsenen. „Es gibt keine Kinder-WM – da mache ich eben bei den Großen mit“, sagt sie.

Und bei diesen „Großen“ hält das Küken im deutschen Team schon jetzt mit. Sie freue sich riesig über diese erste Medaille bei einer Weltmeisterschaft, erzählt Annabel, als sie am Abend mit Bundestrainerin Stefanija Jurisic in ihrem Zimmer im olympischen Dorf in Turin sitzt. Annabel sagt, sie habe sich für die Degenkonkurrenz am nächsten Tag nichts vorgenommen. „Das ist doch eine Lüge!“, ruft die Trainerin und lacht. Sie soll recht behalten: Annabel holt Silber, muss sich nur Yui Chong Chan aus Hongkong geschlagen geben.

Mutter Esther sagt, ihre Tochter sei „sehr ehrgeizig und resolut – im Fechten wie im Leben.“ So gelingt es ihr auch, die Doppelbelastung von Schule und Sport zu schultern. Annabel trainiert zweimal in der Woche je zweieinhalb Stunden und fährt täglich eine Stunde Fahrrad – „für die Kondition“.

Die sieht Hans Rautenstrauch, ihr Vereinstrainer bei der TG Biberach, als eine ihrer großen Stärken. „Dazu kommt eine ungeheure Reaktionsschnelligkeit“, erklärt Rautenstrauch und glaubt: „Das hat sie beides vom Basketball mitgebracht.“ Inzwischen geht Annabel allenfalls noch zum Spaß auf Körbejagd und konzentriert sich ansonsten ganz aufs Fechten. Dort gibt es trotz aller Begabung noch einiges zu tun. In der Verteidigung etwa. „Annabel ficht sehr aggressiv, will immer schnelle Treffer. Da vernachlässigt sie zuweilen die Defensive“, sagt Trainer Rautenstrauch. „Ich muss an meinen Paradereposten, den Kontern auf gegnerische Angriffe, arbeiten“, weiß auch Annabel, die seit vier Jahren ficht.

Die sportlichen Ziele sind – bei allem Ehrgeiz – aber ihrem Lebenstraum untergeordnet: „Ich will Abitur machen und einen guten Job kriegen, am liebsten Richterin werden.“ Sie will unabhängig sein. Annabel war noch keine zwei Jahre alt, als sie ein Autounfall in den Rollstuhl brachte. Aus diesem heraus möchte sie noch viel erreichen. Zunächst mit Degen und Florett. So wie Esther Weber-Kranz, ihr Vorbild, das 24 internationale Medaillen holte. Trainer Rautenstrauch ist sich sicher: „Annabel ist erst 13. Vor ihr liegen noch sehr viele Erfolge als Fechterin.“

LARS JESCHONNEK